Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
späteren Werk, wie etwa Die Republik, das Auftauchen von Platons eigenen Gedanken sehen, welche absolute Standards für Gerechtigkeit und andere Tugenden auf dem Gebiet der Metaphysik betonen. Was ist Platons Vorstellung von unserem grundlegenden Lebensziel? Sie besteht darin, die höchste Form von Wissen zu erlangen, und das war seiner Ansicht nach die Idee des ›Guten‹, aus dem alles andere seinen Wert schöpft. Erst dann, sagt Platon, sind wir in der Lage, eudaimonia zu erlangen – seiner Vorstellung nach ein Zustand der Harmonie der Seele . Lassen Sie mich diesen Begriff ›Harmonie der Seele‹ wiederholen. Es lohnt sich, ihn sich zu merken: Er könnte Ihnen für Ihr weiteres Leben sehr nützlich sein.
Wenden wir uns nun dem nächsten großen Philosophen, Aristoteles, zu, der vielleicht zwanzig Jahre lang mit Platon gemeinsam studierte. Zwanzig Jahre . Das sollen vor allem diejenigen unter Ihnen nicht vergessen, die über meinen Lehrplan stöhnten, ihn als zu schwierig und zu umfangreich empfanden.
»In den Abschnitten der Nikomachischen Ethik, die Sie in dieser Woche lesen werden, werden Sie feststellen, dass auch Aristoteles feste Ansichten zum guten Leben hatte. Er war überzeugt davon, dass es nicht aus Sinnenlust oder Ehre oder Reichtum besteht. Was aber war für Aristoteles der Sinn unseres Lebens? Für ihn lag er darin, unsere innerste, einzigartige Funktion zu erfüllen. ›Was ist es‹, fragt er, ›was uns von anderen Lebensformen abhebt?‹ Diese Frage gebe ich an Sie weiter.«
Keine sofortigen Antworten von den Schülern. Schließlich sagte ein Schüler: »Wir können lachen. Das können andere Tiere nicht«, womit er bei seinen Klassenkameraden unterdrücktes Kichern erntete.
Ein weiterer Schüler: »Wir laufen auf zwei Beinen.«
»Lachen und Beine – ist das alles, was Ihnen einfällt?«, rief van den Enden. »Solche närrischen Antworten trivialisieren diese Diskussion. Denken Sie nach! Was ist das hauptsächliche Attribut, das uns von niedrigeren Lebensformen abhebt?« Plötzlich wandte er sich Bento zu: »Diese Frage stelle ich Ihnen, Bento Spinoza.«
Ohne zu überlegen sagte Bento: »Ich glaube, unsere einzigartige Fähigkeit ist es, logisch zu denken.«
»Ganz genau. Und demzufolge behauptete Aristoteles, dass der glücklichste Mensch derjenige ist, der genau diese Funktion am besten erfüllt.«
»Dann besteht also das höchste und glücklichste Streben darin, ein Philosoph zu sein?«, fragte Alphonse, der intelligenteste Schüler im Griechischunterricht, den Bentos wie aus der Pistole geschossene Antwort geärgert hatte. »Liegt es nicht im Eigeninteresse eines jeden Philosophen, diese Behauptung aufzustellen?«
»Ja, Alphonse, und Sie sind nicht der erste Denker, der diesen Schluss gezogen hat. Und genau diese Beobachtung leitet uns zu Epikur über, einem weiteren wichtigen griechischen Denker, der sich mit radikal unterschiedlichen Gedanken zur eudaimonia und zur Mission des Philosophen geäußert hat. Wenn Sie in zwei Wochen etwas von Epikur lesen werden, werden Sie feststellen, dass auch er vom guten Leben sprach, dafür aber ein vollkommen anderes Wort benutzte. Er spricht viel von ataraxia , was übersetzt so viel bedeutet wie …«, und wieder hielt van den Enden eine Hand an sein Ohr.
Alphonse meldete sich sofort mit »Stille«, und bald fügten andere »Ruhe« und »Seelenfrieden« hinzu.
»Ja, ja und ja«, sagte van den Enden, der an den Leistungen seiner Klasse offenkundig zunehmend Gefallen fand. »Für Epikur war ataraxia das einzig wahre Glück. Und wie erreichen wir es? Weder durch Platons Harmonie der Seele noch durch Aristoteles’ Erlangen von Vernunft, sondern schlicht durch das Ausschalten von Sorge und Furcht . Sollte Epikur in diesem Augenblick zu Ihnen sprechen, würde er Sie dazu anhalten, Ihr Leben zu vereinfachen. Sollte er heute hier stehen, würde er es etwa so formulieren …«
Van den Enden räusperte sich und sprach in kollegialem Ton: »Ihr jungen Leute, eure Bedürfnisse sind gering, sie sind einfach zu erlangen, und jedes notwendige Leiden kann leicht erduldet werden. Beschwert euer Leben nicht mit trivialen Zielen wie Reichtum und Ruhm: Sie sind die Feinde der ataraxia . Ruhm, zum Beispiel, besteht aus den Meinungen anderer und verlangt, dass wir unser Leben so leben müssen, wie andere es wünschen. Um Ruhm zu erlangen und zu bewahren, müssen wir mögen, was andere mögen, und das meiden, was immer sie meiden. Folglich ein Leben des
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