Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
haben, da es für das Medizinstudium unglücklicherweise keine Voraussetzung mehr ist, aber vielleicht werden Sie entdecken, dass einige Aspekte dieser Diskussion sich für Ihre zukünftige Arbeit mit Patienten als nützlich erweisen könnten.«
Van den Enden verbeugte sich abermals förmlich vor seiner Tochter: »Und nun, Mademoiselle, werde ich Sie verlassen, damit Sie Ihre Schüler weiterhin auf Herz und Nieren prüfen können.«
Clara Maria fuhr fort, kurze Passagen von Cicero zu lesen, die Bento und Dirk abwechselnd ins Holländische übersetzten. Manchmal klopfte sie mit dem Lineal auf den Tisch, um den geistesabwesenden Bento zur Ordnung zu rufen, der, statt sich auf Cicero zu konzentrieren, von den entzückenden Lippenbewegungen Clara Marias bei den »m«s und den »p«s von »multa«, »pater« und »puer« und ganz besonders »praestantissimum« hingerissen war.
»Wo ist heute nur Ihre Konzentration geblieben, Bento Spinoza?«, fragte Clara Maria, sichtlich bemüht, ihr überaus angenehmes, dreizehnjähriges, birnenförmiges Gesicht in strenge Falten zu legen.
»Entschuldigen Sie, ich war einen Augenblick lang in Gedanken versunken, Fräulein van den Enden.«
»Zweifellos waren Sie mit Ihren Gedanken beim Griechisch-Symposium meines Vaters, wie?«
»Zweifellos«, heuchelte Bento, dessen Gedanken sicherlich mehr bei der Tochter als beim Vater waren. Auch war er noch immer von Jacobs wütenden Worten ein paar Stunden zuvor aufgewühlt, der ihm das Schicksal eines einsamen, isolierten Mannes prophezeit hatte. Jacob war starrsinnig und engstirnig und irrte in so vielem, doch hier hatte er Recht: In Bentos Zukunft würde es keine Frau geben, keine Familie, keine Gemeinschaft. Die Vernunft sagte ihm, dass sein Ziel die Freiheit sein müsse und dass sein Kampf, sich von den Zwängen der abergläubischen jüdischen Gemeinschaft zu befreien, zur Farce verkäme, wenn er sie einfach gegen die Fesseln einer Ehefrau und einer Familie eintauschte. Die Freiheit war sein einziger Schatz: die Freiheit, zu denken, zu analysieren, die brausenden Gedanken, die ihm im Kopf herumschwirrten, niederzuschreiben. Aber es fiel schwer, so schwer, seinen Blick von den zauberhaften Lippen Clara Marias zu reißen.
Van den Enden begann die Diskussion mit seinen Griechisch-Schülern mit dem Ausruf: » Eudaimonia . Lassen Sie uns die beiden Wortstämme untersuchen: › eu ‹?« Er hielt eine Hand an sein Ohr und wartete. Die Schüler riefen zaghaft: »gut«, »normal«, »angenehm.« Van den Enden nickte, wiederholte die Übung mit » daimon « und hörte einen selbstbewussteren Chor aus »Dämon«, »Kobold« und »Nebengott«.
»Ja, ja und ja. Alles ist richtig, aber wenn sich › eu ‹ dazugesellt, verschiebt sich die Bedeutung zu ›glückliche Fügung‹, und deshalb konnotiert eudaimonia normalerweise ›Wohlbefinden‹ oder ›Glückseligkeit‹ oder ›Wohlergehen‹. Sind diese drei Begriffe Synonyme? Zunächst scheint es so, aber in der Tat haben sich zahllose Philosophen mit deren Unterscheidungsnuancen beschäftigt. Ist eudaimonia ein Geisteszustand? Eine Lebensform?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte van den Enden hinzu: »Oder ist es ein rein hedonistisches Vergnügen? Oder könnte es mit dem Begriff arete in Zusammenhang stehen, welcher was bedeutet?« Wiederum wartete er mit der Hand am Ohr, bis zwei Schüler gleichzeitig »Tugend« riefen.
»Ja, genau, und viele Philosophen der griechischen Antike beziehen Tugend in den Begriff eudaimonia ein, womit sie es vielleicht vom subjektiven Zustand, sich glücklich zu fühlen, zu einer höheren Würdigung hinführen, nämlich ein moralisches, tugendhaftes, wünschenswertes Leben zu führen. Sokrates war es damit besonders ernst: Erinnern Sie sich an unsere Lesung von letzter Woche aus Platons Apologia , in welcher er einen Athener Mitbürger anpöbelt und die Frage von arete mit diesen Worten aufwirft …« An dieser Stelle nahm van den Enden eine theatralische Pose ein, rezitierte Platon auf Griechisch und übersetzte dann den Text langsam für Dirk und Bento ins Lateinische: »›Schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangst, und für Ruhm und Ehre, für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befindet, sorgst du nicht, und hieran willst du nicht denken?‹
Und nun berücksichtigen Sie, dass Platons frühes Werk die Gedanken seines Lehrers Sokrates widerspiegelt, während wir in seinem
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