Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
diesem Augenblick zusammen, sammelte sich und lieferte eine Viertelstunde lang eine erstaunlich breitgefächerte Stegreifrede ab. Vom Inhalt her nichts Originelles. Seine Ansichten – antijüdisch, promilitärisch, antikommunistisch – entsprechen den unseren. Aber wie er es vermittelt hat, war schon verblüffend. Nach ein paar Minuten waren alle, ich meine, wirklich alle, wie erstarrt; gebannt schauten sie in seine lodernden blauen Augen und saugten jedes einzelne seiner Worte gierig auf. Dieser Mann hat eine besondere Gabe. Das war mir sofort klar, und nach der Versammlung bin ich ihm nachgelaufen, habe ihm das Flugblatt Mein politisches Erwachen und meine Visitenkarte in die Hand gedrückt und ihn eingeladen, sich mit mir in Verbindung zu setzen, damit ich ihm mehr über die Partei erzählen kann.«
»Und?«, fragte Eckart.
»Nun, gestern Abend hat er mich besucht. Wir unterhielten uns ausführlich über die Absichten und Ziele der Partei, und jetzt ist er Mitglied Nummer fünfhundertfünfundfünfzig und wird sich auf der nächsten Versammlung an die Parteimitglieder wenden.«
»Fünfhundertfünfundfünfzig?«, unterbrach Alfred. »Unglaublich! Ist die Partei schon so groß?«
»Äh, unter uns und nur unter uns, Alfred: In Wirklichkeit ist es die Nummer fünfundfünfzig«, raunte Drexler. »Für die Veröffentlichung legen wir allerdings Wert darauf, dass du eine Stelle dazutust und fünfhundertfünfundfünfzig daraus machst. Die Leute werden uns ernster nehmen, wenn sie uns für größer halten.«
Ein paar Tage später machten Eckart und Alfred sich gemeinsam auf den Weg, um den Gefreiten Hitler reden zu hören. Danach war ein Abendessen zu dritt bei Eckart zu Hause geplant. Hitler schlenderte selbstbewusst vor das vierzigköpfige Auditorium und begann ohne irgendeine Einleitung sofort mit einer leidenschaftlichen Warnung vor den Gefahren, die Deutschland von den Juden drohten. »Ich bin gekommen«, sagte er mit erregter Stimme, »um Sie vor den Juden zu warnen und eine neue Art von Antisemitismus zu fordern. Ich fordere einen Antisemitismus, der auf Tatsachen beruht und nicht auf Gefühlen. Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen. Das ist nicht die Lösung. Wir brauchen mehr, viel mehr als das. Wir brauchen einen Antisemitismus der Vernunft. Die Vernunft führt uns zu einem letzten, absolut unverrückbaren Ziel: der Entfernung der Juden überhaupt aus Deutschland.«
Dann gab er eine weitere Warnung aus: »Die Revolution, die das gekrönte Haupt Deutschlands von der Macht gefegt hat, darf dem Judäo-Bolschewismus nicht Tür und Tor öffnen.«
Alfred zuckte bei dem Begriff »Judäo-Bolschewismus« zusammen. Genau diesen Begriff hatte er selbst eine Zeit lang verwendet, und nun dachte dieser Gefreite genauso und benutzte dieselben Worte. Das war schlecht, aber auch gut. Schlecht, weil Alfred sich selbst als Urheber dieses Begriffs betrachtete, aber auch gut, weil er erkannte, dass er einen schlagkräftigen Verbündeten hatte.
»Ich will Ihnen mehr über die jüdische Gefahr erzählen«, fuhr Hitler fort. »Ich will Ihnen mehr über einen Antisemitismus der Vernunft erzählen. Es ist nicht wegen der Religion der Juden. Ihre Religion ist nicht schlechter als die anderen – sie sind alle Teil des gleichen, groß angelegten religiösen Schwindels. Und es ist auch nicht wegen ihrer Geschichte oder ihrer widerwärtigen, parasitären Kultur – obwohl ihre Sünden gegen Deutschland über Jahrhunderte hinweg legendär sind. Nein, das alles ist nicht der Grund. Worum es wirklich geht, ist ihre Rasse, ihr verseuchtes Blut, das jeden Tag, jede Stunde, jede Minute Deutschland schwächt und bedroht.
Das verseuchte Blut kann niemals rein werden. Ich werde Ihnen von den Juden erzählen, die sich haben taufen lassen, von den konvertierten christlichen Juden. Das sind die Schlimmsten. Sie sind die größte Gefahr. Sie werden unser großartiges Land genauso heimtückisch infizieren und zerstören, wie sie jede große Zivilisation zerstört haben.«
Bei dieser Aussage zuckte Alfred zusammen. Er hat Recht, er hat Recht, dachte er. Dieser Hitler erinnerte ihn an das, was er schon wusste. Das Blut kann nicht verändert werden. Einmal Jude, immer Jude. Alfred musste seine Einstellung zum Spinoza-Problem insgesamt überdenken.
»Für uns«, fuhr Hitler fort und schlug sich bei jedem Argument auf die Brust, »ist dieses Problem kein Problem, an dem
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