Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
ich, dass die Größe Deutschlands von unseren großen Söhnen ausging – Goethe, Kant, Hegel, Schiller, Leibniz. Meinen Sie nicht auch?«
»Genau deshalb bat ich dich, noch zu bleiben. Er braucht … wie soll ich sagen?, Schliff, Vollendung. Er liest, aber ausgesprochen selektiv, und wir müssen seine Lücken füllen. Das, Rosenberg, wird unsere Aufgabe sein – deine und meine. Aber wir müssen geschickt und behutsam vorgehen. Ich habe das Gefühl, dass er ausgesprochen stolz ist, und die Herkulesaufgabe, die nun vor uns liegt, wird sein, ihn zu bilden, ohne dass er es merkt.«
Alfred ging mit schweren Schritten nach Hause. Die Zukunft war nun klarer. Ein neues Schauspiel kam auf die Bühne, und obwohl er inzwischen überzeugt war, dass er zur Besetzung gehörte, war die ihm zugedachte Rolle nicht die, die er sich erträumt hatte.
19
AMSTERDAM, 27. JULI 1656
Von außen sah die Talmud-Thora-Synagoge, die Hauptsynagoge der sephardischen Juden, wie jedes andere Haus in der Houtgracht aus, einer großen, geschäftigen Prachtstraße, in der viele der sephardischen Juden Amsterdams lebten. Aber im Innenbereich der Synagoge mit seiner aufwendigen, maurischen Möblierung befand man sich in einer anderen Welt. An der Seitenwand – derjenigen Wand, die Jerusalem am nächsten war – stand ein kunstvoll geschnitzter Heiliger Schrein, in welchem die Sefer Thora, die Thorarolle, verborgen hinter einem dunkelroten, bestickten Samtvorhang aufbewahrt wurde. Vor dem Schrein diente eine Bima aus Holz als Podium, auf dem der Rabbiner, der Kantor, der Vorleser des Tages und andere Würdenträger standen. Vor allen Fenstern hingen schwere, mit Vögeln und Ranken bestickte Vorhänge, die den Vorübergehenden den Blick in den Innenraum der Synagoge verwehrten.
Die Synagoge war jüdisches Gemeindezentrum, Hebräischschule und Gebetshaus für normale Frühgottesdienste, längere Sabbatgottesdienste und für die Feiern an hohen Festtagen.
Nicht viele Menschen nahmen regelmäßig an den kurzen, werktäglichen Gottesdiensten teil; oft waren es nur zehn Männer – der erforderliche Minjan –, und wenn auch diese Zahl nicht erreicht wurde, versuchte man schnell, die fehlenden Männer auf der Straße zusammenzutrommeln. Frauen gehörten selbstverständlich nicht zum Minjan . Am Morgen des 27. Juli 1656, eines Dienstags, fanden sich jedoch nicht nur zehn friedliche Gläubige, sondern fast dreihundert lärmende Gemeindemitglieder ein, die jeden Platz und jeden Quadratzentimeter der verfügbaren Stehplätze in Anspruch nahmen. Anwesend waren nicht nur die regelmäßigen Besucher der werktäglichen Gottesdienste und die Sabbatjuden, sondern auch die Gelegenheitsjuden, die sonst nur an hohen Festtagen den Weg in die Synagoge fanden.
Der Grund für den ganzen Wirbel und die stattliche Besucherzahl? Der Wirbel wurde vom gleichen Nervenkitzel, dem gleichen Grusel und der gleichen Sensationslust geschürt, die seit jeher Menschenmassen in Scharen zu öffentlichen Kreuzigungen, Erhängungen, Enthauptungen und Ketzerverbrennungen treibt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, dass Baruch Spinoza mit einem Bann belegt werden sollte.
Cherems waren in der jüdischen Gemeinde Amsterdams im siebzehnten Jahrhundert nichts Ungewöhnliches. Ein Cherem wurde alle paar Monate verhängt, und jeder erwachsene Jude hatte viele miterlebt. Aber die riesige Menschenmenge des 27. Juli erwartete keinen gewöhnlichen Cherem . Die Familie Spinoza war jedem Amsterdamer Juden gut bekannt. Baruchs Vater und sein Onkel Abraham waren oft Mitglieder des Maamad , des jüdischen Rates von Amsterdam, gewesen, und beide Männer lagen auf dem Friedhof in einem besonderen Bereich in geheiligtem Boden begraben. Jedoch ist es für die Menschen von besonderem Reiz, wenn hochgestellte Persönlichkeiten in Ungnade fallen: Die dunkle Seite der Bewunderung ist Neid, kombiniert mit der Verärgerung über die eigene Gewöhnlichkeit.
Historisch gesehen, wurden Cherems erstmals im zweiten Jahrhundert vor Christus in der Mischna erwähnt, der frühesten schriftlichen Sammlung mündlicher rabbinischer Überlieferungen. Ein systematisches Kompendium von Verstößen, die einen Cherem rechtfertigten, wurde im fünfzehnten Jahrhundert vom Rabbiner Joseph Karo in seinem einflussreichen Buch Der gedeckte Tisch ( Schulchan Aruch ) zusammengestellt, das vielfach gedruckt wurde und den Amsterdamer Juden des siebzehnten Jahrhunderts wohlbekannt war. Rabbi Karo listete eine große
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