Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Anzahl von Verstößen, welche einen Cherem rechtfertigten, wie Glücksspiel, unzüchtiges Benehmen, Steuerschulden, öffentliche Beleidigungen gegen Mitglieder der eigenen Gemeinde, Eheschließung ohne elterliche Zustimmung, Bigamie oder Ehebruch, Missachtung einer Entscheidung des Maamad , Respektlosigkeit gegenüber einem Rabbiner, theologische Diskussionen mit Nichtjuden, Leugnen der Gültigkeit des rabbinischen Gesetzes und Zweifeln an der Unsterblichkeit der Seele oder der Göttlichkeit der Thora.
Es war nicht nur das Wer und das Warum des bevorstehenden Cherems , das die Neugier der Menge in der Talmud-Thora-Synagoge anstachelte; gerüchteweise wurde eine außerordentliche Schwere der Vergehen vorhergesagt. Die meisten Cherems waren milde, öffentliche Rüffel, die eine Geldbuße nach sich zogen oder eine Verbannung über Tage oder Wochen. In ernsteren Fällen, wie bei Ketzerei, war die Strafzumessung typischerweise länger – in einem Fall elf Jahre. Doch war eine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft immer möglich, wenn der Betroffene die Bereitschaft zeigte, zu büßen und eine vorgeschriebene Strafe anzunehmen – im Allgemeinen eine hohe Geldbuße oder wie im Fall des berüchtigten Uriel da Costa, öffentliche Auspeitschung. Aber in den Tagen vor dem 27. Juli 1656 hatten Gerüchte über einen in seiner Härte noch nie dagewesenen Cherem kursiert.
Wie es Brauch bei einem Cherem war, war der Innenraum der Synagoge nur von schwarzen Wachskerzen beleuchtet, sieben davon auf einem großen, von der Decke hängenden Kronleuchter und zwölf in umgebenden Wandnischen. Rabbi Mortera und sein Helfer Rabbi Aboab, der nach dreizehn Jahren in Brasilien wieder zurückgekehrt war, standen Seite an Seite auf der Bima vor dem Heiligen Schrein, flankiert von den sechs Mitgliedern der Parnassim. Rabbi Mortera wartete mit ernster Miene, bis die Gemeinde verstummte, hielt ein hebräisches Dokument hoch und verlas mit dröhnender Stimme die hebräische Proklamation ohne Begrüßung oder einführende Worte. Die meisten Gemeindemitglieder lauschten schweigend. Die Wenigen, die das gesprochene Hebräisch verstanden, flüsterten ihren Nachbarn die Übersetzung ins Portugiesische zu, die ihrerseits die Information über die Sitzreihen weitergaben. Bis Rabbi Mortera zu Ende gelesen hatte, war die Stimmung in der Gemeinde ernüchtert, ja fast düster.
Rabbi Mortera trat zwei Schritte zurück, als Rabbi Aboab vortrat und das hebräische Cherem Wort für Wort ins Portugiesische übersetzte.
»Die Herren des Maamad tun euch zu wissen, daß sie schon vor einiger Zeit Nachricht von den schlimmen Meinungen und Handlungen des Baruch de Espinoza hatten und sich durch verschiedene Wege und Versprechungen bemühten, ihn von seinen schlimmen Wegen abzuziehen. Da sie dem nicht abhelfen konnten, im Gegenteil erhielten sie täglich mehr Nachrichten von den entsetzlichen Ketzereien, die er übte und lehrte, und von den ungeheuerlichen Handlungen, die er beging, und sie hatten davon viele glaubwürdige Zeugen, welche sie ablegten und bezeugten alles in Gegenwart des besagten Espinoza, dessen er überführt wurde. Da dieses alles in Gegenwart der Herren Chachamim geprüft wurde, beschlossen sie mit deren Zustimmung, daß besagter Espinoza sei gebannt und von Israels Nation getrennt …«
»Schlimme Wege?«, »Entsetzliche Ketzereien?«, »Ungeheuerliche Handlungen?« Ein Murren ging durch die Gemeinde. Verblüffte Mitglieder sahen sich fassungslos an. Viele kannten Baruch Spinoza ihr ganzes Leben lang. Die meisten bewunderten ihn, und niemand wusste von einer Verstrickung in boshafte Händel, ungeheuerliche Handlungen oder entsetzliche Ketzereien. Rabbi Aboab fuhr fort:
»Mit dem Beschlusse der Engel und dem Spruch der Heiligen bannen, trennen, verfluchen und verwünschen wir Baruch de Espinoza mit Zustimmung des gebenedeiten Gottes und dieser heiligen Gemeinde vor den heiligen Büchern der Thora mit ihren sechshundertdreizehn Vorschriften, die darin geschrieben sind, mit dem Banne, mit dem Josua Jericho gebannt, mit dem Fluche, mit dem Elisa die Knaben verflucht hat, und mit allen Verwünschungen, welche im Gesetze geschrieben sind.«
Im Männerbereich der Kirchengemeinde schaute Gabriel zum Frauenbereich hinüber: Er suchte Rebecca, um ihre Reaktion auf diese heftigen Verwünschungen gegen ihren Bruder mitzubekommen. Gabriel hatte schon mehrere Cherems miterlebt, aber noch keinen so erbarmungslosen. Und es kam noch schlimmer. Rabbi Aboab fuhr
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