Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
paar Monate zuvor hatte die Nazipartei den Münchener Beobachter, die Zeitung der Thule-Gesellschaft, erworben, sie sogleich umgetauft und an Dietrich Eckart übergeben, der sein altes Blatt einstellte und mit seiner bisherigen Belegschaft nun die neue Zeitung herausgab. Hitler wartete, bis Alfred den Artikel durchgelesen hatte, und war überrascht, als Alfred die Schublade seines Schreibtisches aufzog und den Entwurf eines Artikels herausnahm, den er zufällig selbst gerade über Alkoholismus schrieb.
Hitler überflog Alfreds Artikel, hob den Kopf und erklärte: »Sie sind identisch.«
»Ja, sie stimmen so genau überein, dass ich meinen Artikel zurückziehen werde«, antwortete Alfred.
»Nein, auf keinen Fall. Veröffentlichen Sie alle beide. Die Wirkung wird viel größer sein, wenn beide in derselben Ausgabe erscheinen.«
Als Hitler mehr Macht in der Partei übernahm, verfügte er, dass alle Parteiredner ihm vorab ihre Reden vorzulegen hatten. Später nahm er Alfred von dieser Pflicht aus – es sei unnötig, wie er sagte, da sich ihre Reden so sehr glichen. Aber Alfred stellte doch einige Unterschiede fest. Zum einen hatte Hitler trotz der unübersehbaren Wissenslücken aufgrund seiner begrenzten Schulbildung ein außerordentliches Selbstbewusstsein. Immer wieder verwendete Hitler Begriffe wie »unverrückbar«, womit er implizierte, dass er sich seiner Überzeugungen vollkommen sicher war und fest zu seinem Prinzip stand, niemals, unter gar keinen Umständen auch nur einen Aspekt seiner Überzeugungen zu ändern. Alfred kam aus dem Staunen nicht heraus, wenn er Hitler zuhörte. Woher nahm er bloß diese Sicherheit? Er, Alfred, würde für ein solches Selbstvertrauen seine Seele verkaufen, und es schauderte ihn, wenn er sich selbst beobachtete, wie er ständig nach der leisesten Anerkennung, der leisesten Zustimmung lechzte.
Und es gab noch einen Unterschied. Während Alfred oft von der Notwendigkeit sprach, Juden aus Europa »zu entfernen« oder »umzusiedeln« oder »zu verlagern«, verwandte Hitler eine andere Sprache. Er sprach vom »Ausrotten« oder »Ausmerzen« der Juden, ja sogar davon, sie allesamt an Laternenpfählen aufzuhängen. Aber das war bestimmt Rhetorik, das Wissen darum, wie man Zuhörer wachrüttelt.
In den folgenden Monaten erkannte Alfred, dass er Hitler unterschätzt hatte. Dies war ein Mann von beachtlicher Intelligenz, ein Autodidakt, der unersättlich Bücher las, sich alle Informationen merkte und eine große Schwäche für Kunst und Wagners Musik hatte. Dessen ungeachtet war die Basis seines Wissens angesichts der fehlenden systematischen akademischen Ausbildung brüchig und wies klaffende Lücken auf. Alfred tat sein Bestes, diese anzusprechen, aber es war eine Herausforderung. Hitlers Stolz war so ausgeprägt, dass Alfred ihm nie direkt sagen konnte, welche Bücher er lesen sollte. Stattdessen lernte er, ihn indirekt weiterzubilden. Denn Alfred hatte festgestellt, dass immer, wenn er ein Thema ansprach, Schiller beispielsweise, Hitler sich wenige Tage später in aller Ausführlichkeit und mit unerschütterlicher Sicherheit über Schillers Dramen unterhalten konnte.
An einem Frühlingsmorgen in jenem Jahr kam Dietrich Eckart an Alfreds Büro vorbei und schaute einige Augenblicke lang durch die Glasfüllung der Tür, hinter der sein Schützling eifrig einen Artikel redigierte. Er schüttelte den Kopf, klopfte an die Scheibe und bedeutete Alfred, ihm in sein Büro zu folgen. Dort zeigte er auf einen Stuhl.
»Ich muss dir etwas sagen – um Himmels willen, Alfred, schau doch nicht so besorgt. Du bewährst dich bestens. Ich bin mit deinem Einsatz voll und ganz zufrieden. Wenn ich dir überhaupt etwas raten könnte, dann höchstens ein bisschen weniger Einsatz, ein paar Bierchen mehr und öfters ein lockeres Gespräch mit anderen. Zu viel Arbeit ist nicht immer eine Tugend. Aber darüber reden wir ein andermal. Hör zu, du wirst für unsere Partei immer wertvoller, und ich möchte deine Karriere vorantreiben. Würdest du mir zustimmen, dass Redakteure, die etwas veröffentlichen, über das sie Bescheid wissen, im Vorteil sind?«
»Natürlich.« Alfred bemühte sich, weiterhin ein freundliches Gesicht zu machen, wusste aber nicht so recht, worauf Eckart hinauswollte. Er war überhaupt nicht einzuschätzen.
»Bist du schon viel in Europa herumgekommen?«
»Sehr wenig.«
»Wie kannst du über unsere Feinde schreiben, wenn du sie nicht mit eigenen Augen gesehen hast? Ein guter
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