Das spirituelle Wunschgewicht
Sicht sind viele Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung nicht wirklich neu: Sie bestätigt Zusammenhänge, die sehr bewusste Menschen schon vor Jahrtausenden formuliert haben. Dennoch machen die neuen bildgebenden Verfahren, mit deren Hilfe das Gehirn vermessen und fotografiert werden kann, es einer breiten Öffentlichkeit möglich, alte, spirituelle Weisheiten nachzuvollziehen.
Das sehe ich durchaus als Fortschritt. Deshalb gleich noch eine Erfahrung, die die Gehirnforscher bestätigt haben: Bevor ein Impuls einem Menschen bewusst wird, ist im Gehirn bereits eine Veränderung messbar. 0,5 Sekunden vor der Bewegung zeichnet sich im Hirn eine Aktivität ab. Sie wird uns aber erst 0,2 Sekunden vor der Handlung bewusst. Daraus ziehen manche den falschen Schluss, dass wir vom Unbewussten gelenkt werden und nicht wirklich frei in unseren Entscheidungen sind. Richtig daran ist, dass die Impulse einsetzen, bevor wir sie wahrnehmen. Das Unbewusste reagiert drei Zehntel vor dem Bewusstsein. Viel interessanter erscheint mir jedoch die Zeit zwischen der Wahrnehmung des Handlungspotenzials und der tatsächlichen Ausführung der Tat. Diese zwei Zehntelsekunden beinhalten den Moment der Freiheit. Ein Impuls muss nicht ausgeführt werden. Jeder, der einigermaßen bewusst ist, weiß das. Es juckt einen in den Fingern, den Chef an der Jacke zu packen und ihm einmal gründlich die Meinung zu sagen. Man möchte vor Angst weglaufen, geht dann aber doch zur Abschlussprüfung.
Was im Gehirn abläuft, ist Folgendes: Menschen sind Gewohnheitstiere. Wir neigen dazu, das zu denken, was wir schon immer gedacht haben, und das zu tun, was wir seit Langem machen. Deshalb sind Vorurteile so hartnäckig und Verhaltensänderungen so schwer. Das Gehirn spiegelt diesen Umstand wider.
Die kleinen grauen Zellen bereiten das typische Verhalten vor, das wir in einer bestimmten Situation zeigen. Dann kommt jedoch ein Moment, wo wir innehalten können, vorausgesetzt unser Geist ist wach.
In diesem gegenwärtigen Augenblick haben wir die Möglichkeit, uns bewusst anders zu entscheiden als gewöhnlich.
Eine Szene aus dem Film »Die sieben Samurai» von Akira Kurosawa veranschaulicht das sehr schön. Zur Verteidigung eines Dorfes gegen Banditen sucht ein erfahrener Samurai sechs Mitstreiter, die den Widerstand der Bevölkerung organisieren sollen. Als Test für die möglichen Kandidaten hat er sich ausgedacht, dass er sie von einer Hütte aus bittet einzutreten, um mit ihnen zu sprechen. Hinter der Tür lauert jedoch ein Helfer, der die Auserwählten mit einem Knüppel angreifen soll.
Der erste betritt die Hütte und erhält, da er nicht aufgepasst hat, einen Schlag auf den Kopf. Der zweite reagiert so schnell, als er eintritt, dass er den Angreifer abwehren kann. Der dritte Kandidat macht einen Schritt auf die Hütte zu, hält dann inne, bleibt stehen und fragt: »Was soll das?« Intuitiv hat er die Gefahr erkannt. Er erspart sich dadurch den Schlag, aber auch den Kampf.
Die Kandidaten symbolisieren die drei Stufen des Bewusstseins. Der erste hat seinen Geist ausgeschaltet und macht sich damit zum Opfer. Der zweite reagiert spät, aber noch rechtzeitig. Am besten macht es der letzte. Mit wachem Geist ahnt er die Gefahr und begegnet ihr, bevor etwas passieren kann.
Übertragen auf den Moment der Freiheit bedeutet dies, dass er für den ersten nicht zu existieren scheint. Für den zweiten ist er lang genug, um noch zu reagieren. Der Erfahrenste unter den dreien hat alle Zeit der Welt. Er ist der Einzige, der seine Freiheit in vollem Umfang nutzt. Er kann stehen bleiben, umkehren, kämpfen, den anderen zur Rede stellen – was immer er will.
Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen: Aufgrund langer Gewohnheitsbildung besteht eine Tendenz, alte Verhaltensweisen fortzusetzen. In bekannten Situationen sendet das Gehirn genau die Impulse, die geeignet sind, wie üblich zu reagieren. Diese Vorgänge laufen prinzipiell unbewusst ab. Wenn eine Person sich nicht entschließt, in diese Abläufe einzugreifen, passiert das, was immer passiert. Von außen gesehen wirkt das Verhalten zwanghaft, und es mag auch demjenigen selbst so vorkommen. Von Willensfreiheit scheint es keine Spur zu geben.
Anders jedoch, wenn die Person aufmerksam ihre Gedanken und Handlungen beobachtet. Dann kann sie jederzeit in das Geschehen eingreifen, den Ablauf stoppen und in eine andere Richtung lenken. Es ist egal, ob man – bildlich gesprochen – den Knüppel bereits auf
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