Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
pathologischen Befunde der Leichenärzte entgegengenommen und einen unfreiwilligen Blick auf die Toten werfen müssen, die er gern aus seinem Gedächtnis verbannt hätte. Es erfüllte ihn mit grimmiger Genugtuung, dass er sich an diesem Tag keine frische Leiche ansehen, sondern Nachforschungen in einem früheren Todesfall anstellen musste.
„An einen Mann mit Naevus flammeus sollte man sich hier erinnern, denke ich doch“, sagte Professor Melching, ein weiß gelockter, älterer Herr, der Vorlesungen über Rechtsmedizin hielt und die Lehrobduktionen für Medizinstudenten leitete.
„Bekommt Ihr Institut öfters freiwillige Körperspenden?“, fragte Lischka, während der Arzt die Rücken der Ordner in seinem Aktenschrank studierte.
„Oh, wir sind sogar darauf angewiesen. Doch es kommt leider nicht sehr oft vor. Nur ab und zu gibt es einen ungläubigen Wiener, der sich kein Begräbnis leisten kann und dem es egal ist, was mit seiner Leiche passiert. Und dann sind da noch die anonymen Selbstmörder. Die werden manchmal auch für Lehrzwecke hierher gebracht. Wie, sagten Sie, war noch gleich der Name?“
„Alois Lanz“, sagte Lischka mit mühsam unterdrückter Ungeduld.
„Ah, da haben wir ihn ja“, verkündete der Arzt und zog eine dünne Mappe aus dem Schrank.
Der Weg zu diesem Mörder ist mit medizinischen Aktenblättern gepflastert, dachte Lischka.
„Der Mann hat sich aufgehängt am 27. April 1903, seine Leiche wurde in der Pension Stadelmey in Spittelberg gefunden. Seine Identität konnte damals zweifelsfrei durch den Abschiedsbrief festgestellt werden, der mit seinem Namen unterschrieben war.“
„Was, wenn ich Ihnen sage, dass man die Leiche damals ordnungsgemäß hätte identifizieren müssen? Dadurch hätten viele unschuldige Menschen ihr Leben behalten können.“
Lischka empfand grenzenlose Empörung über die Schlampigkeit der zuständigen Behörden. Auf der anderen Seite – warum hätte man Verdacht schöpfen sollen? Es war schließlich nichts Verdächtiges daran, dass ein seelisch labiler Mensch, der jahrelang in der Irrenanstalt gesessen hatte, sich in Freiheit umbrachte und seinen unglücklichen Leib den Skalpellen der Anatomen überantworten wollte.
„Das geht mich nichts an, Herr Inspektor“, erwiderte Melching trocken und ein klein wenig beleidigt. „Hier in der Akte steht, dass die Leiche zuerst an unseren leitenden Präparator gegangen ist, wegen auffälliger körperlicher Merkmale, die sich hervorragend zu Studienzwecken eignen.“
„Und was für auffällige körperliche Merkmale das waren steht da nicht?“ Lischka konnte seine Ungeduld kaum noch bezähmen.
„Dazu müssen wir die Kollegen aus der Präparations-Sammlung fragen“, sagte Doktor Melching.
***
Eine Stunde später wurde er in einen kleinen Raum geführt an dessen Wänden deckenhohe Regale standen. Auf den Regalbrettern standen Glasbehälter, die dem Betrachter einen Einblick in die gnadenlosen Launen der Natur gaben.
Fassungslos starrte Lischka auf einen eingelegten Embryo, der aussah, als wäre seine Mutter von einer Echse schwanger gewesen. Ein anderer kleiner Körper hatte die Form eines Hundes. Daneben stand das Skelett eines winzigen Kindes mit einem riesigen Schädel. Lischkas Blick huschte angewidert über Flaschen mit verkrümmten Füßen und mit Händen mit zusammengewachsenen Fingern. Hier gab es schwarz glänzende Organe, Gebisse mit übergroßen Zähnen und eingelegte Gehirne. Ihn schauderte zwischen all den grotesken Auswüchsen, die ein Gottesfürchtiger nur mit einem Eingreifen des Satans hätte erklären können, die für die Mediziner am Allgemeinen Krankenhaus jedoch einen nur faszinierenden Einblick in die menschliche Natur darstellten. Hier war also ein Teil von Alois Lanz verschwunden, oder von demjenigen, der an seiner statt gestorben war.
Ein weiterer weißhaariger Mediziner führte Lischka zu einem Tisch mit gläsernen Schubladen und zog eine der Laden auf. Darin befand sich ein flacher verschlossener Glaskasten mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
„So etwas meinten sie doch, oder?“, fragte er.
Auf dem Boden des Kastens schien ein purpurner Schwamm zu wachsen. Die Oberfläche sah aus wie die eines runzligen Pilzes.
„Ist das dieses … dieses Feuermal?“
„Das ist der größte Naevus Flammeus, der der medizinischen Fachwelt bisher bekannt ist“, sagte der Arzt stolz.
Lischka beugte sich über das eingelegte Hautstück. Er stellte sich vor, wie die Ärzte den Leichnam
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