Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Hasler
Vom Netzwerk:
Kranzer schweigend und regungslos neben ihm saß und ihn beobachtete.
    Normalerweise genoss Grimminger den Moment, wenn er einem Gemälde den Anstrich falschen Alters verleihen konnte. Es war ein Moment, da ihm seine seltsame Macht bewusst wurde und er sich vorkam wie ein Gott des falschen Scheins. Doch heute erledigte er diesen Schritt mit kalter Routine, getrieben von dem Wunsch, Kranzer und die Medusa nie wiederzusehen.
    Als der falsche Staub verteilt war, nahm er die Spannzange, legte sie am Keilrahmen an und schlug den ersten Spannnagel ein. Das Gleiche wiederholte er auf der Gegenseite und dann auf den restlichen Seiten. Anschließend arbeitete er sich mühsam weiter vor, immer zwei Nägel neben den ersten vier einschlagend. Konzentriert fasste er die Leinwand immer wieder von neuem und spannte sie fest um den Rahmen. Nur das leise, gedämpfte Hämmern des speziellen Werkzeugs war zu hören. Kranzer war so still, dass der Fälscher ihn zwischenzeitlich fast vergaß.
    Grimminger konzentrierte sich auf die rauhe Leinwand in seinen Händen und schlug die letzten Nägel ein. Dann nahm er vier sorgfältig zugeschnittene Keile und drückte sie in die Ecken, bis alle fest saßen und die Leinwand straff gespannt war. Jetzt musste Kinsky nur noch den Rahmen auswechseln und das gute Stück an die Wand hängen und hoffen, dass es niemandem auffiel.
    Mit einem wehmütigen Seufzen legte er die Medusa vor sich auf den Tisch und betrachtete sie. Plötzlich fühlte er in der Brust ein leichtes Reißen. Ein eigentümlicher Schmerz kroch ihm an der Wirbelsäule hinauf. War das so etwas wie Abschiedsschmerz für sein letztes Werk? Das Bedauern über das Ende von etwas, das in den letzten Jahrzehnten viel zu selbstverständlich geworden war?
    Grimminger hielt den Atem an. Auf einmal fand er, dass der schockstarre Ausdruck im Gesicht der Gorgone etwas zu theatralisch geraten war. Hatte Rubens sie tatsächlich so gemalt? Dieser Ausdruck des vollkommen unerwarteten Schmerzes über den eigenen Tod – als wäre die Medusa in diesem Moment noch bei Bewusstsein, wie ein Huhn ohne Kopf, das noch eine Weile herumläuft, bevor es umfällt.
    In diesem Moment war es, als griffe der Todeskampf der Medusa aus der Leinwand nach ihm und drückte ihm das Herz zusammen. Grimminger erschrak über das körperliche Empfinden dieses seltsamen Schmerzes. Es war, als wollte sein Herz für ein paar Schläge aussetzen, um endlich dem schlechten Gewissen Platz zu machen. Auf einmal sah er ganz deutlich, dass er mit der Fertigstellung der Medusa etwas besiegelt hatte. Irgendetwas Unwiderrufliches. Und warum wollte sein Herz nicht mehr normal weiterschlagen? War der Moment der Überraschung nicht irgendwann einmal wieder vorüber? Er hörte ein Rascheln und merkte, wie er auf den schmutzigen Boden der Werkstatt sank. Ein seltsamer Frieden überkam ihn und erstickte die Panik in dem zusammenfallenden Gewölbe des Muskels, der das Blut – sein Blut – auf den schmutzigen Werkstattboden pumpte. Er begriff, dass Rubens mit der Medusa einem ganz speziellen Moment ein Denkmal gesetzt hatte. Einem Moment, den der antike Perseus der schrecklichen Gorgone und gleichzeitig dem Fälscher geschenkt hatte … zu sterben, wenn man es am wenigsten erwartete.

TEIL 3: BILDERTOD

I
    Die große Wohnung hallte wider vor Leere, und es gab kein Brennholz mehr, um den Ofen zu heizen.
    Julius saß am Fenster und starrte auf die weiße Straße. Seine Unterlippe war wund, weil er in seiner Unruhe immer wieder darauf herumkaute.
    Seit dem frühen Morgen hatte er nichts mehr von Rudolph Lischka gehört. Der war dem Bildermörder auf der Spur und konnte sich nicht um Julius’ Belange kümmern.
    Er spürte die Unruhe wie ein ganzes Heer Ameisen unter seiner Kleidung. Lischka würde heute die Frage klären, ob Alois Lanz seinen eigenen Selbstmord vorgetäuscht hatte, um die Identität eines unbescholtenen und wohlhabenden Bürgers anzunehmen. Dazu musste er den Leiter des Anatomischen Instituts befragen und das Testament von Lanz prüfen. Wie schrecklich es sein musste, einen Mörder zu verfolgen. Es kam ihm vor wie die Jagd nach einer Trophäe, deren Erringen aber keine Freude versprach, sondern nur schmerzhafte Erleichterung und lang entbehrten Frieden.
    „Wir kümmern uns um den Hofrat, sobald Lanz beziehungsweise Rohrbach gefasst ist“, hatte er atemlos verkündet, und Julius konnte ihm diese Prioritäten nicht übel nehmen.
    „Du bleibst hier und übst dich in Geduld!“,

Weitere Kostenlose Bücher