Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
seine Aufgaben bei Hofe.“
Sie sagte das mit solcher Endgültigkeit, dass sie Julius irgendwie leidtat. Wollte sie damit andeuten, dass sie zutiefst einsam war? Verdammt dazu, immer wieder hierherzukommen, weil sie sonst eingehen würde vor Stumpfsinn?
„Was fasziniert Sie so am Kunsthistorischen Museum, wenn ich fragen darf?“
Sie fasste sich an ihr glänzendes Haar und nestelte an einer Haarnadel.
„Das ist nur ein Ort von vielen, wo man in dieser Stadt sein kann. Und zwar noch einer von den angenehmeren.“
„Wegen dem nackten Fleisch?“
Da beugte Luise von Schattenbach sich zu ihm herüber, bis ihre Augenbrauen fast sein Kinn berührten, und flüsterte: „Die Wahrheit, Julius, ist viel komplexer, als es jetzt den Anschein hat. Finden Sie es selbst heraus.“
Damit öffnete sie ihren kleinen Samtbeutel, fuhr mit der Hand hinein und zog eine kleine weiße Karte heraus, die sie ihm reichte. Darauf standen ihr Name und eine Adresse.
„Wenn Sie Lust haben, einmal außerhalb dieser Mauern zu reden …Vielleicht über Kunst. Vielleicht auch nicht. Vielleicht erzähle ich Ihnen, warum ich hier bin. Und keine Angst – Sie werden meinem Mann nicht begegnen.“
Mit diesen Worten setzte sie ihren Hut auf, erhob sich und ging.
Julius blieb so lange sitzen, bis das spitze, harte Klacken ihrer Schuhe im Labyrinth der Galerie verklungen war. Dann erwachte er langsam aus der überraschten Starre, in die er gefallen war.
Über ihm deckte der Schnee das Glasdach zu und dämpfte das Licht, als wäre Milch in die Lampenschirme gegossen worden.
Julius beendete seine Schicht mit dem seltsamen Ziehen einer ängstlichen Vorfreude auf etwas Ungewisses in den Eingeweiden. Danach streifte er noch eine Weile ziellos durch die Galerie. Er hatte keine Lust, in das zugige Loch bei Frau Hanak zurückzukehren. Und er hatte auch keinen Grund, sich wieder in der Suppenanstalt anzustellen. Denn der Museumsdirektor hatte Julius in dieser Woche diskret einen Umschlag mit einem bescheidenen Vorschuss auf den ersten Monatslohn überreicht, damit er wenigstens etwas Anständiges essen konnte. Sich trotz dieses Geldes unter die Obdachlosen einzureihen wäre Julius vorgekommen wie Diebstahl.
Als er schon auf dem Weg zum Ausgang der Abteilung für italienische Meister war, blieb er plötzlich stehen. Etwas, woran er gerade vorbeigegangen war, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Julius ging ein paar Schritte zurück und betrachtete die Gemälde. Er wusste augenblicklich, was ihn hatte stutzen lassen. Zwischen den wuchtigen Goldrahmen hing ein kleines Bild, nicht höher als 70 Zentimeter und nicht breiter als sein Unterarm. Etwas an diesem Bild war wie ein leiser Schrei, der durch sämtliche Gänge seines Bewusstseins hallte. Es warf ein völlig neues Licht auf die Schlagzeile über einen neuen Mord, die er am Morgen in der Neuen Freien Presse gelesen hatte. Vor ihm hatte der Maler Andrea Mantegna den halbnackten heiligen Sebastian gemalt, an eine Steinsäule gebunden, der wehrlose, bleiche Körper mit Pfeilen gespickt, als wäre er ein lebendes Nadelkissen. Julius erkannte sofort, dass es 15 Pfeile waren.
IX
Die Hand des Malers lag so ruhig am Rand der Leinwand wie eine sonnenverliebte Eidechse auf einer warmen Mauer. Mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen strichelte er den Schein des kostbaren Tageslichts auf das flaumige Haar des Stammhalters der Familie Juristoff. Der Säugling war in den Armen seiner Mutter eingeschlafen. Diesen glücklichen Umstand galt es zu nutzen. Es erwies sich nämlich als äußerst schwierig, einen zappelnden, lebhaften Säugling zu porträtieren, der nicht verstand, warum sein Bewegungsdrang ständig unterbunden wurde. Und deswegen ließ Frau Emilia Juristoff die Kleinen einzeln und auch erst dann kommen, wenn ihre Kinderfrau verkündete, dass sie schläfrig waren. Jetzt lag der knapp einjährige Michail Juristoff still an der Schulter seiner Mama, und der Maler tupfte mit einem hellen Ockerton die Lichtreflexe in das blonde Haar des Kindes.
Das große Porträt war fast beendet. Es war begonnen worden, als Emilia Juristoff gerade mit Michail und seinem Zwillingsbruder Kilian niedergekommen war. Ein weiterer Sprössling der Familie, die fast dreijährige Anna, hatte im Laufe dieses Jahres gelernt, stillzusitzen. Die Eitelkeit dieses Kindes war bemerkenswert. Die Mutter hatte ihm eingeredet, dass es eine Prinzessin sei, die gemalt werden würde, um dem Volk eine Freude zu machen und damit jeder sie sehen könne.
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