Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
seinem Auge die Masse der Museumsbesucher, und hinter den verschwimmenden Menschen kam das leuchtende Gemälde von Rubens zum Vorschein, auf dem halbnackte Flussgötter mit fülligen Nymphen in Eintracht beisammensaßen, während im Vordergrund drei kleine Kinder mit einem Alligator spielten.
„Glauben Sie, dass es die Leute erregt, wenn sie so viel nackte Haut sehen?“, fragte plötzlich eine Stimme neben ihm.
Julius musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, von wem die geflüsterten Worte kamen. Sein Mund schien plötzlich wie mit Sand gefüllt zu sein.
Luise von Schattenbach nahm auf einer der Bänke Platz, ihren Hut in der einen Hand, und klopfte mit der anderen Hand auf das Polster neben sich. „Setzen Sie sich, Herr Pawalet. Sie vernachlässigen nicht Ihre Arbeit, wenn Sie es tun.“
Ihre Worte erlaubten keine Widerrede.
Julius trottete wie ein gehorsamer Hund zu ihr und setzte sich neben sie auf die Samtpolster. Ihr Haar war ein üppiger Turm aus hochgesteckten glänzenden Flechten, die so dunkel waren wie türkische Schokolade. Julius sah ihr verwirrt in die Augen, die jetzt so nah waren wie damals bei ihrem Zusammenstoß. Er konnte diesem Blick nicht standhalten. Etwas darin war gleißend wie Sonnenlicht auf frischem Schnee. Julius senkte die Augen und fragte leise: „Kommen Sie deswegen jeden Tag hierher? Wegen all dem nackten Fleisch?“
Luise von Schattenbach stieß ein Lachen aus, das man auch als anzüglich bezeichnen konnte. Ein älteres Paar warf ihr einen empörten Blick zu.
„Dafür, dass ich dachte, Sie wären ein verschreckter kleiner Neuling, sind Sie ganz schön frech.“
„Ich bin sogar so frech, Sie zu fragen, was Sie von diesem Kopisten halten, der ebenfalls jeden Tag hier ist. Sie beide haben sicherlich schon eine Art Freundschaft geschlossen.“
Ein maliziöses Lächeln spielte um ihre Lippen. „Er macht nur seine Arbeit. Übrigens war Ihr Vater erheblich weniger an den hier verkehrenden Menschen interessiert als Sie“, sagte sie, und ihre Stimme klang zwar so zart wie venezianisches Glas, aber ebenso hart.
„Wie meinen Sie das, Gnädigste?“, wollte Julius wissen und spürte nun wieder Ärger in sich hochsteigen, dass sein toter Vater immer wieder erwähnt wurde von den Menschen, die ihm seit dessen Beerdigung begegnet waren.
„Nun, ich spüre Ihren Blick in meinem Rücken. Man könnte meinen, dass ich, ebenso wie diese ganzen Gemälde, etwas bin, was Sie jeden Tag sehen. Daraus habe ich geschlossen, dass man sich an mich gewöhnt und mich gar nicht mehr richtig wahrnimmt. Aber mir scheint, dass Sie aufmerksamer sind als die übrigen Angestellten hier, nicht wahr?“ Ein Lauern lag in ihrer Stimme.
„Das gehört zu meiner Arbeit, Frau von Schattenbach.“ Julius hoffte, dass sie ihm nicht anmerkte, wie beengt er sich auf einmal fühlte in seiner Saaldieneruniform.
„Sagen Sie, verwirre ich Sie?“, fragte sie.
„Sie wissen, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt“, murmelte Julius und ließ den Blick auf dem nackten Fleisch ringsum verweilen, weil das Rascheln neben ihm ihn nervös machte.
Luise von Schattenbach musterte ihn mit katzenhafter Aufmerksamkeit. „Herr Pawalet!“, sagte sie in gespielter Empörung. „Ich wollte nicht wissen, ob Sie sich von mir angezogen fühlen. Also nein, so eine Frage würde ich Ihnen niemals stellen. Ich wollte nur wissen, ob es Sie verwirrt, dass eine Frau jeden Tag allein in dieses Haus kommt und sich immer wieder dieselben Bilder ansieht, ohne jemals gelangweilt zu sein!“
Sie schien belustigt wie eine Mutter, deren kleiner Sohn rot wird, wenn er sie nackt in der Badewanne antrifft.
Julius räusperte sich. „Nun, das stimmt – ich habe mich des Öfteren gefragt, was eine … Frau wie Sie dazu bringt, jeden Tag hier zu verweilen. Ich habe mich gefragt, ob es keine anderen Dinge gibt, mit denen sich jemand wie Sie die Zeit vertreiben kann.“
„Offensichtlich langweilt mich jeder Zeitvertreib, den man einer Dame von Adel nachsagt, so sehr, dass ich mir etwas anderes suche.“
„Also keine Spaziergänge in Schönbrunn und keine Kaffeekränzchen mit Ihresgleichen?“
Sie schüttelte den Kopf, und ihr Gesicht wirkte einen Augenblick viel älter vor Verachtung und Abscheu.
„Ihr Ehegatte muss sich dann wenigstens keine Sorgen um Sie machen, und er muss auch keine Angst haben, dass Sie in schlechte Gesellschaft geraten“, sagte er.
„Machen Sie sich keine Gedanken über meinen Gatten. Er lebt ganz und gar für
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