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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Hasler
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Die verwöhnte Anna glaubte diesem Schwindel und saß mit gerecktem Kinn und entrücktem Gesichtchen auf dem Stuhl, wie man es wohl von einer Prinzessin erwarten würde. Der Maler konnte sehen, dass das Selbstverständnis des Adels bei ihr bereits Früchte trug, und darum verabscheute er das kleine blonde Mädchen zutiefst. Nein, dachte er, während er die weißen Rüschen an ihrem Kleid malte, dich wird niemand mehr sehen, sobald du erst einmal meinem richtigen Kunstwerk Modell gestanden hast. Und ebenso deine quengelnden Brüder.
    Manchmal redete er sich ein, er würde diese Kinder vielleicht sogar beschützen, indem er plante, ihnen die Zukunft zu nehmen. Wer konnte schon wissen, wohin diese aufgeplusterte, aber im Kern verrottete Monarchie in den nächsten Jahren trieb? Wer konnte ahnen, was in zehn oder fünfzehn Jahren mit russischen Adeligen geschah, die in Wien lebten und zu deren Haushalt sicherlich 50 Bedienstete zählten? In gewisser Weise ersparte er diesen drei ahnungslosen Geschöpfen eine düstere Zukunft, indem er sie anderweitig verewigte.
    „Irma, bringen Sie Herrn Lanz noch ein Glas Punsch, bitte!“, rief Emilia Juristoff dem Dienstmädchen zu. Das Mädchen eilte hinaus und brachte dem Maler ein Glas heißen Punsch, auf dessen Boden Kandiskristalle schimmerten wie Glasstücke. Lanz nahm einen kräftigen Schluck und machte sich daran, den feinen Häkelkragen des kleinen Michail zu verewigen.
    „Sie sind ja gewissermaßen ein Teil der Familie geworden, nicht wahr?“, säuselte die Hausherrin und streichelte über den Rücken ihres Kindes. Der Maler Lanz lächelte verkniffen. Am liebsten hätte er die Frau gefragt, warum er dann bei jeder Sitzung das Haus über den Dienstboteneingang betreten und wieder verlassen musste.
    Aber in gewisser Weise hatte sie recht. Das vergangene Jahr bei den Juristoffs hatte dem Maler einen sehr genauen Einblick in den Alltag der Familie gegeben. Er kannte ihren gewöhnlichen Tagesablauf so genau wie seinen eigenen. Er wusste, wann sie ihre Mahlzeiten einnahmen, an welchen Tagen der Klavierlehrer der gnädigen Frau kam, wann die Kinder geweckt wurden, und er kannte jede Freundin der Hausherrin beim Namen. Doch dieses Wissen war nutzlos. Wirklich wichtig war ein anderes Ritual dieser Familie. Er hatte erfahren, dass die Kinderfrau Anette die drei Kleinen jeden Donnerstag zu einem Spaziergang in den Schönbrunner Park mitnahm. Und da die Juristoffs gesunde, kräftige Kinder heranziehen wollten, galt diese Tradition zu jeder Jahreszeit. Nur Schneestürme und Dauerregen erlaubten ein Abweichen von diesem Ritual. Das bedeutete, dass Anette auch in der nächsten Woche die Zwillinge dick einpacken, in den doppelten Kinderwagen legen und die kleine Anna an der Hand nehmen würde, damit der blaublütige Nachwuchs frische Luft schnappen konnte. Fast noch wichtiger als diese Information war die Tatsache, dass die Eltern der Kinder am Wochenende zu einer mehrwöchigen Reise nach Russland aufbrechen würden.
    Er hatte sehr viel Zeit.
    „Wo werden Sie das Bild aufhängen, wenn es fertig ist, gnädige Frau?“, fragte der Maler Emilia Juristoff.
    Sie lächelte und deutete mit strahlenden Augen auf die mit Seide bespannte Wand über dem großen Marmorkamin.
    „Dorthin. Damit jeder es gleich sieht, wenn er den Salon betritt. Ich will, dass es aufgehängt wird, bevor wir zurückkommen. Das wird eine wunderbare Überraschung! Es wird doch fertig sein bis dahin?“

X
    Die Visitenkarte von Luise von Schattenbach lag in Julius’ Hand wie eine Verheißung auf ein anderes Leben. Einem Leben, von dem er nie gedacht hätte, dass er jemals einen Blick hineinwerfen würde. Es war wie ein geflüstertes Versprechen, das ihn den ganzen Weg von seiner schäbigen Wohnung bis zu der feinen Gegend in der Nähe der Hofburg umwehte wie der Atem dieser geheimnisvollen Frau.
    Er betrat den Michaelerplatz, auf dem es von livrierten Dienern und hohen Herrschaften nur so wimmelte. Vor dem hinteren Eingang der Burg drängten sich die Fiaker. Die Glocken der Michaelerkirche läuteten zwei Uhr.
    Julius schlug den Weg in die Herrengasse ein und versuchte seinen Blick nur auf die Hausnummern zu richten und den fein gekleideten Menschen auf den Gehwegen nicht allzu viel Beachtung zu schenken. Irgendwo im Gewirr der gepflegten Straßen und prunkvollen Häuser hatte diese merkwürdige Frau eine Tür für ihn geöffnet, und irgendwo in seinem Innern, wo die feigen Gedanken sich duckten, hoffte er, dass sie nicht

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