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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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eigentlich? Das ist der Grund, warum die der Verdauung dienenden Körperöffnungen in sexueller Hinsieht so populär geworden sind. Die verzweifelte Suche nach einer Schleimhaut. Nur wer einen festen Partner hat, kann auf Kondome verzichten - also heiratet man. Die Schwulen sind militant: Sie wollen die Ehe, und sie wollen, ohne sich verstellen zu müssen, in die Armee eintreten können und dort akzeptiert werden. Die beiden Institutionen, die ich schon immer gehaßt habe. Und zwar aus ein und demselben Grund: Reglementierung.
    Der letzte, der diese Fragen ernst genommen hat, war vor dreihundertfünfzig Jahren - John Milton. Haben Sie mal seine Traktate über die Scheidung gelesen? Die haben ihm seinerzeit viele Feinde eingebracht. Ich hab sie hier irgendwo unter meinen Büchern. Damals, in den Sechzigern hab ich die Seitenränder mit vielen Anmerkungen versehen. »Hat unser Heiland uns diese gefährliche und zufällige Tür zur Ehe nur geöffnet, um sie alsdann gleich den Pforten zum Reich des Todes zu verschließen...?« Nein, Männer haben keine Ahnung von den brutalen, tragischen Aspekten dessen, auf was sie sich einlassen - oder sie handeln bewußt so, als hätten sie keine Ahnung davon. Bestenfalls denken sie stoisch: Ja, ich verstehe, daß ich in dieser Ehe früher oder später auf Sex verzichten muß, aber ich tue das, um andere, wertvollere Dinge zu bekommen. Aber begreifen sie, auf was sie verzichten? Wie soll man, wenn man keusch und ohne Sex lebt, mit den Niederlagen, den Kompromissen, den Frustrationen fertig werden? Indem man mehr Geld verdient, möglichst viel Geld? Indem man möglichst viele Kinder in die Welt setzt? Das hilft, aber es ist kein Ersatz für das andere. Denn das andere ist im Körper verankert, in dem Fleisch, das geboren ist, in dem Fleisch, das sterben wird. Denn nur beim Vögeln übt man an allem, was einem verhaßt ist und was einen zu Boden drückt, eine reine, wenn auch nur momentane Vergeltung. Nur dann ist man voll und ganz lebendig, voll und ganz man selbst. Die Unsittlichkeit ist nicht im Sex, sondern in allem anderen. Sex ist nicht bloß Reibung und seichtes Vergnügen. Mit Sex übt man auch Vergeltung am Tod. Vergessen Sie nicht den Tod. Vergessen Sie ihn nie. Ja, auch die Macht des Sex hat ihre Grenzen. Ich weiß sehr wohl, wie begrenzt sie ist. Aber sagen Sie mir: Welche Macht ist größer?
     

Aber zurück zu Carolyn Lyons, beinahe zweieinhalb Jahrzehnte später und fünfunddreißig Pfund schwerer.
    Ich hatte ihre frühere Statur geliebt, doch bald gefiel mir auch ihre neue, bei der ein schlanker Rumpf auf einem breiten Unterbau ruhte. Ich ließ mich davon inspirieren, als wäre ich ein Gaston Lachaise. Ihr ausladender Hintern und die breiten Oberschenkel sprachen zu mir von allem Weiblichen, das sich in ihr vereinte. Und ihre Bewegungen unter mir, die Feinheiten ihrer Erregung, inspirierten mich zu einem weiteren pastoralen Vergleich: das Pflügen eines sanft gewellten Feldes. Die Studentin Carolyn bestäubte man wie eine Blume, die fünfundvierzigjährige Carolyn bestellte man wie ein Feld. Die Ungleichheit zwischen der alten, geschmeidigen oberen Hälfte und der neuen, breiten unteren Hälfte entsprach der faszinierenden Diskrepanz meiner insgesamten Wahrnehmung von ihr. Für mich war sie eine aufregende Mischung aus der intelligenten, erwartungsvoll bebenden, wagemutigen Pionierin, die im Seminar unentwegt die Hand hob, aus der hübschen Dissidentin in Zigeunerkleidern, aus Janie Wyatts vernünftigster Gefährtin, die 1965 auf jede Frage eine Antwort gehabt hatte, und der selbstbewußten Geschäftsfrau, die sie in mittleren Jahren war und die das Potential besaß, einen zu überwältigen.
    Man hätte meinen können, daß der nostalgische Reiz unserer Treffen im Lauf der Zeit nachließ, da die vom Tabu der verbotenen Beziehung zwischen Professor und Studentin befeuerte Leidenschaft unsere gegenwärtigen, erlaubten Freuden nicht mehr nährte. Doch es verging ein Jahr, und nichts dergleichen geschah. Durch die Leichtigkeit, die Ruhe und das körperliche Vertrauen, durch Dinge also, die immer eine Rolle spielen, wenn Gefährten aus früheren Zeiten das alte Spiel wiederaufnehmen, aber auch durch Carolyns Realismus jene Fähigkeit, den richtigen Maßstab anzulegen, mit der die Demütigungen des Erwachsenenlebens die romantischen Hoffnungen einer höchst begabten jungen Frau aus der oberen Mittelschicht erwartungsgemäß abgetönt hatten - wurden mir Freuden zuteil, wie

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