Das sterbende Tier
Verheirateten schüttet mir je sein Herz aus. Zwischen uns gibt es keinerlei Affinität. Vielleicht reservieren sie ihre Vertraulichkeiten füreinander, obgleich ich da meine Zweifel habe - ich glaube nicht, daß männliche Solidarität heutzutage sehr weit reicht. Ihr Heldentum besteht nicht nur im stoischen Ertragen der Tatsache, daß sie tagtäglich verzichten, sondern auch darin, daß sie mit Sorgfalt ein verlogenes Bild von ihrem Leben präsentieren. Ihr wahres, unbeschönigtes Leben bekommen nur ihre Therapeuten zu sehen. Ich will nicht behaupten, daß sie alle mir wegen meines Lebenswandels feindselig gegenüberstehen und mir nur Schlechtes wünschen, aber man kann wohl sagen, daß ich nicht Gegenstand allgemeiner Bewunderung bin. Jetzt, da George tot ist, erfahre ich Solidarität nur noch von Frauen wie Elena, die einst meine Freundinnen waren. Sie können mir nicht dasselbe bieten wie George, aber immerhin scheine ich ihre Toleranz nicht über Gebühr zu strapazieren.
Sein Alter? George war fünfundfünfzig. Ein Schlaganfall. Er hatte einen Schlaganfall. Ich war dabei. Ebenso wie achthundert andere. Es war in der Young Men's Hebrew Association. An einem Samstag abend im September. Er sollte eine Lesung halten. Ich stand am Rednerpult und stellte ihn vor, und er saß auf einem Stuhl in den Kulissen neben der Bühne, hörte sich meine Einführung mit Vergnügen an und nickte zustimmend. George trug seinen enggeschnittenen Bestattungsunternehmer-Anzug und hatte die langen, dünnen Beine ausgestreckt - der biegsame George in seinem Anzug war ein Drahtkleiderbügel von einem dunklen, hakennasigen Iren. Anscheinend hatte er den Schlaganfall, während er, seine sechs Gedichtbände auf dem Schoß, darauf wartete, in düsterem Schwarz auf die Bühne zu treten und das Publikum ganz und gar in seinen Bann zu schlagen. Denn als der Applaus erklang und er sich erheben wollte, fiel er einfach vom Stuhl, und dieser fiel auf ihn. Sein Werk lag über den Boden verstreut. Die Ärzte dachten, er würde das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen, aber er blieb eine Woche bewußtlos, und dann holte seine Familie ihn zum Sterben nach Hause.
Auch dort war er die meiste Zeit ohne Bewußtsein. Die linke Seite gelähmt. Stimmbänder gelähmt. Ein großer Teil des Gehirns einfach ausgefallen. Sein Sohn Tom ist Arzt, und er beaufsichtigte das Sterben, das weitere neun Tage dauerte. Er entfernte den Tropf, den Katheter, alles. Wenn George die Augen aufschlug, schoben sie ihm ein Kissen in den Rücken und gaben ihm Wasser zu trinken und Eiswürfel zu lutschen. Im übrigen sorgten sie dafür, daß er es so bequem wie möglich hatte, während er quälend langsam vom Leben in den Tod hinüberglitt.
Jeden Nachmittag fuhr ich, wenn ich meine Arbeit beendet hatte, nach Pelham, um ihn zu besuchen. George war mit seiner Familie hinaus nach Pelham gezogen, um in Manhattan, wo er an der New School unterrichtete, freie Hand zu haben. Manchmal standen fünf oder sechs Wagen in der Einfahrt, wenn ich dort eintraf. Die Kinder wechselten sich an seinem Bett ab, und manchmal hatten sie das eine oder andere Enkelkind dabei. Eine Krankenschwester kümmerte sich um ihn und gegen Ende auch eine Hospizpflegerin. Kate, Georges Frau, war natürlich rund um die Uhr da. Ich ging ins Schlafzimmer, setzte mich für fünfzehn oder zwanzig Minuten an das Krankenhausbett, das man dort aufgestellt hatte, und nahm seine Hand, die Hand, in der er noch etwas spürte, doch er war immer ohne Bewußtsein. Schweres Atmen. Stöhnen. Das gesunde Bein zuckte hin und wieder, aber mehr geschah nicht. Ich strich ihm über das Haar, über die Wange, drückte seine Hand, doch es kam keine Reaktion. Ich saß da und hoffte, er würde zu sich kommen und mich erkennen, und dann fuhr ich nach Hause. Eines Nachmittags kam ich dorthin, und sie sagten, es sei soweit: Er sei aufgewacht. Geh rein, geh rein, sagten sie.
Sie hatten das Kopfteil des Betts halb hochgeklappt und George ein Kissen in den Rücken geschoben. Seine Tochter Betty fütterte ihn mit Eis. Sie zerkleinerte Eissplitter mit den Zähnen und schob ihm kleine Stücke in den Mund. George versuchte, sie auf der Seite des Mundes, auf der er noch etwas spürte, zu zerkauen. Er sah wirklich sehr abgezehrt aus - so dünn -, doch er hatte die Augen geöffnet, und er verwendete alle Konzentration, die ihm geblieben war, darauf, das Eis zu kauen. Kate stand in der Tür und sah ihm zu, eine beeindruckende, weißhaarige Frau, beinahe
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