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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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ich hab verstanden, ich hab dich verstanden.« Und Tom begann geduldig den Fuß zu massieren, in dem George etwas spürte.
    Dann zeigte George auf die Tür, in der Kate stand und zusah. »Er will dich, Ma«, sagte Betty. Ich machte Platz, und Kate kam und stellte sich dorthin, wo ich gestanden hatte, neben das Bett, und George streckte seinen gesunden Arm nach ihr aus, zog sie an sich und küßte sie so heftig wie zuvor Betty und mich. Kate erwiderte den Kuß. Dann küßten sie sich noch einmal, lange diesmal, und es war ein recht leidenschaftlicher Kuß. Kate schloß sogar die Augen. Sie ist eine außerordentlich unsentimentale, nüchterne Frau, und ich hatte sie noch nie zuvor so mädchenhaft erlebt.
    Inzwischen war Georges gesunde Hand von ihrem Rücken zu ihrem rechten Arm gewandert, und er begann, am Knopf der Blusenmanschette herumzufingern. Er versuchte, ihn zu öffnen. »George«, flüsterte Kate. Es klang amüsiert. »Georgie, Georgie...« »Hilf ihm doch, Ma. Er will den Knopf aufmachen.« Kate lächelte über die Anweisung ihrer gefühlvollen Tochter und öffnete den Knopf, aber George machte sich bereits an der Manschette des anderen Ärmels zu schaffen, und so knöpfte sie diese ebenfalls auf. Und die ganze Zeit reckte er sich gierig nach ihren Lippen. Kate liebkoste sein eingefallenes Gesicht, dieses immens einsame, hohlwangige Gesicht, und küßte ihn auf den Mund, wann immer er ihn darbot, und dann strich George über die Knopfleiste der Bluse und zupfte daran herum.
    Was er wollte, war klar: Er versuchte, sie auszuziehen. Er versuchte, diese Frau auszuziehen, die er, wie ich wußte und wie sicher auch die Kinder wußten, im Bett seit Jahren nicht mehr angerührt hatte. Die er überhaupt kaum noch angerührt hatte. »Laß ihn, Ma«, sagte Betty, und Kate tat abermals, was ihre Tochter gesagt hatte. Sie griff mit der eigenen Hand nach den Knöpfen und half George, sie zu öffnen. Und als sie sich wieder küßten, griff er nach dem Stoff ihres großen BHs. Doch hier kam das abrupte Ende. Unvermittelt verließ ihn die Kraft, und er schaffte es nicht mehr, über ihre schweren Brüste zu streichen. Es dauerte noch zwölf Stunden, bis er starb, doch als er sich mit geschlossenen Augen und offenem Mund auf das Kissen zurückfallen ließ, schwer atmend wie einer, der am Ende eines Rennens zusammengebrochen ist, wußten wir alle, daß wir Zeugen der letzten erstaunlichen Tat in Georges Leben gewesen waren.
    Später, als ich mich verabschiedete und zur Tür ging, trat Kate mit mir auf die Vorderveranda und begleitete mich die Einfahrt entlang bis zu meinem Wagen. Sie nahm meine Hände und dankte mir dafür, daß ich gekommen war. Ich sagte: »Ich bin froh, daß ich hier war und das alles gesehen habe.« »Ja, das war schon was, nicht?« sagte Kate. Und dann fügte sie mit ihrem müden Lächeln hinzu: »Ich frage mich, für wen er mich gehalten hat.«
     

George war also erst fünf Monate tot, als Consuela anrief und ihre Nachricht auf meinen Anrufbeantworter sprach:
    »Ich will dir etwas sagen. Ich will es dir selbst sagen, bevor du es von jemand anders erfährst.« Tja, wie gesagt, ich hörte es und dachte, daß nun ihr etwas passiert war. So etwas - ein warnendes Vorgefühl, gefolgt von seiner Erfüllung - ist schon unheimlich genug, wenn man es nur träumt, aber im wirklichen Leben? Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Sollte ich sie zurückrufen? Ich dachte eine Viertelstunde darüber nach. Schließlich tat ich es nicht, denn ich hatte Angst. Warum ruft sie mich an? Was kann der Grund sein? Ich habe mein Leben wieder in der Hand, und es verläuft in ruhigen Bahnen. Habe ich genug Widerstandskraft für Consuela und ihr aggressives Nachgeben? Ich bin nicht mehr zweiundsechzig - ich bin siebzig. Kann ich in diesem Alter den Wahnsinn der Ungewißheit aushaken? Kann ich es wagen, abermals in diese wilde Trance zu fallen? Ist das gut für meine Gesundheit?
    Ich erinnerte mich daran, daß ich, in den drei Jahren nachdem ich sie verloren hatte, nur an sie gedacht hatte, selbst wenn ich im Dunkeln aufgestanden war, um zu pinkeln: Selbst vor der Toilettenschüssel, um vier Uhr morgens und zu sieben Achteln schlafend, hatte der zu einem Achtel wache David Kepesh ihren Namen gemurmelt. Wenn ein alter Mann in der Nacht pinkelt, ist sein Kopf normalerweise vollkommen leer. Wenn er überhaupt imstande ist, an irgend etwas zu denken, dann daran, daß er gleich wieder ins Bett gehen wird. Bei mir war es anders, damals.

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