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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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so groß wie George, aber massiger als bei unserer letzten Begegnung und auch viel müder. Attraktiv gerundet, hart im Nehmen, mit einem trockenen Humor und einer Art widerspenstiger Herzlichkeit - das war Kate in mittleren Jahren. Eine Frau, die sich stets der Wirklichkeit gestellt hatte und die jetzt völlig erschöpft wirkte, als hätte sie ihre letzte Schlacht geschlagen und verloren.
    Tom brachte einen feuchten Waschlappen aus dem Badezimmer. »Willst du dich ein bißchen frisch machen, Dad?« sagte er. »Wieviel kriegt er mit?« fragte ich Tom. »Wieviel versteht er?« »Zeitweise scheint er einiges zu verstehen«, antwortete er. »Und dann wieder gar nichts.« »Seit wann ist er jetzt wach?« »Seit etwa einer halben Stunde. Geh zu ihm. Sprich mit ihm, David. Über Stimmen scheint er sich zu freuen.«
    Freuen? Seltsames Wort. Aber Tom ist immer und überall der joviale Arzt. Ich trat an Georges nichtgelähmte Seite, während Tom das Gesicht seines Vaters mit dem Waschlappen abwischte. George nahm ihm den Lappen ab: Zu aller Überraschung griff er mit seiner gesunden Hand danach, packte ihn und stopfte ihn sich in den Mund. Jemand sagte: »Er ist ganz ausgetrocknet.« George schob einen Zipfel des Waschlappens in seinem Mund herum und saugte daran. Als er ihn herauszog, klebte etwas daran. Es sah aus wie ein Stückchen Gaumenschleimhaut. Betty hielt hörbar den Atem an, und die Hospizpflegerin, die ebenfalls im Zimmer war, klopfte ihr auf den Rücken und sagte: »Nicht schlimm. Sein Mund ist so ausgetrocknet - das ist bloß ein kleiner Hautfetzen.«
    Der Mund war schief und stand offen, jener vom Tod gezeichnete Mund der Sterbenden, doch seine Augen blickten klar, und hinter ihnen schien sogar noch etwas zu sein, etwas von George, das noch nicht nachgegeben hatte. Wie die nach der Bombenexplosion beschädigte Mauer, die noch steht. Mit demselben wütenden Ungestüm, mit dem er nach dem Waschlappen gegriffen hatte, schlug er die Bettdecke zurück und zerrte am Klettverschluß seiner Windel; er versuchte, das Ding auszuziehen, und enthüllte dabei die mitleiderregenden Stöcke, die seine Beine gewesen waren. Sie erinnerten mich an die Wolframfäden in einer durchgebrannten Glühbirne. Alles an ihm, alles, was aus Fleisch und Blut war, erinnerte mich an irgend etwas Unbelebtes. »Nein, nein«, sagte Tom. »Laß das, Dad. Es ist gut so.« Aber George hörte nicht auf. Er zerrte weiter und versuchte vergeblich, die Windel auszuziehen. Als ihm das nicht gelang, hob er die Hand und zeigte mit einer Art Knurren auf Betty. »Was?« fragte sie ihn. »Ich kann dich nicht verstehen. Was willst du? Was?« Die Geräusche, die er von sich gab, waren unverständlich, doch aus seinen Gebärden ging klar hervor, daß sie sich so dicht wie möglich über ihn beugen sollte. Als sie das tat, legte er seinen Arm um sie und zog sie an sich, so daß er sie auf den Mund küssen konnte. »O ja, Daddy«, sagte sie, »ja, du bist der beste Vater, der allerbeste.« Das Erstaunliche war diese Kraft, die nach all den Tagen, in denen er leblos, ausgemergelt dagelegen hatte, in denen er sich irgendwie ans Leben geklammert hatte und jeder Atemzug wie sein letzter gewesen war, in ihm aufstieg - diese große Kraft, mit der er Betty an sich zog und zu sprechen versuchte. Vielleicht, dachte ich, sollten sie ihn nicht sterben lassen. Was, wenn in ihm noch mehr ist, als sie glauben?
    Was, wenn es das ist, was er ihnen zeigen will? Was, wenn er nicht von ihnen Abschied nimmt, sondern sagt: »Gebt mich nicht auf. Tut alles, was in eurer Macht steht, um mich zu retten.«
    Dann zeigte George auf mich. »Hallo, George«, sagte ich. »Hallo, mein Freund. Ich bin's, David.« Und als ich mich über ihn beugte, packte er mich, wie er Betty gepackt hatte, und küßte mich auf den Mund. Ich nahm keinen nekrotischen Geruch wahr, keinen Gestank nach Krankheit, nein, überhaupt keinen Gestank, sondern nur warmen, geruchlosen Atem, den reinen Duft des Seins und die beiden ausgetrockneten Lippen. Es war das erstemal, daß George und ich uns küßten. Wieder ein Grunzen, und nun zeigte er auf Tom. Auf Tom und dann auf seine Füße, die unbedeckt waren. Als Tom, der dachte, George wolle seine Beine zugedeckt haben, begann, die Decke zurechtzuziehen, grunzte George lauter und zeigte abermals auf seine Füße. »Er will, daß du sie hältst«, sagte Betty. »Aber in dem einen spürt er doch gar nichts«, sagte Tom. »Dann nimm den anderen«, sagte Betty. »Okay, Dad,

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