Das Stockholm Oktavo
als die Notenständer umfielen und die Musiker davonrannten. Es erhob sich Gebrüll und Geschrei. Phantastische Wesen liefen in alle Richtungen. Eine Kleopatra wurde ohnmächtig in die Seitenkulissen getragen. Brigadekommandeur Gedda zog seine Perücke ab und eilte mit gezücktem Schwert in seinem Damenkleid durch die Menge. Ein Mann schrie: »Feuer!«, aber niemand nahm Notiz von ihm, die Panik hatte bereits um sich gegriffen.
Ich stellte mich neben die Uzanne – ihr schockierter Blick war echt, ihre Lippen bewegten sich, aber in dem Lärm konnte ich sie nicht verstehen. Ich rückte näher an sie heran. »Pechlin!«, schrie sie auf. Sie ließ Kassiopeia auf einen Schlag zuschnappen und packte sie am Stiel. Ihre Tränen rannen durch den Reispuder in ihrem Gesicht. »O Henrik! Ich habe versagt!« Die Garden des Königs polterten die Hintertreppe hinunter, weitere Rufe nach dem Verriegeln der Türen erschallten. Niemand durfte das Gebäude verlassen. Jeder einzelne Besucher würde befragt und durchsucht werden. Die Uzanne schloss die Augen und führte ihren Fächer zum Mund. Dann senkte sie den Arm, öffnete Kassiopeia und schleuderte sie auf den Boden der Bühne. Ich hörte, wie ihre Stäbe unter Sohlen knackten, und sah, wie ihr Blatt von einem spitzen, roten Absatz zerrissen wurde. Die Uzanne drängte sich durch die Menge, um Gustav falschen Trost zu spenden. Ich machte mich schnell davon, um Johanna zu suchen.
Kapitel 61
Befragung
Quellen: E. L., M. F. L.
Panik und Verwirrung, die das Opernhaus großen Erschütterungen ausgesetzt hatten, wichen beklommenem Warten. Niemand durfte das Gebäude verlassen, bevor er nicht von der Polizei verhört worden war.
»Johanna ist so gut wie tot und Gustav erschossen.« Ich saß in den Seitenkulissen auf einem zierlichen goldenen Stuhl, den ein Musiker verlassen hatte. »Mein Oktavo ist beendet, und ich habe versagt, Meister Fredrik.«
Er entfernte einen Schönheitsfleck und rieb an der purpurroten Beule, die sich an seiner Schläfe bildete. »Ich bin mir nicht sicher, ob dies das Ende ist«, erwiderte mein Freund.
Ich blickte auf die Bühne. Das Rampenlicht brannte lodernd, hin und wieder ging ein kostümierter Gast vom linken zum rechten Bühnenrand und wieder zurück und sah aus wie eine Figur, die sich aus einem Albtraum hierher verirrt hatte. Überall lagen Notenblätter und zertrampelte Masken. Notenständer und Orchesterstühle waren durcheinandergewirbelt worden, als wäre ein Sturm über die Bühne gefegt. Da lagen auch ein einsamer Schnallenschuh, ein smaragdgrüner Schal, ein zermalmter Damenfächer. Meister Fredrik begann eine Melodie in Moll zu summen:
»Unser Leben, welch ein Wunder,
Notabene: Wem es aufgeht.
Kind, das Glück verfolgt dich munter,
Notabene: Bis es draufgeht.
Sieh das Gold so manchen Gimpels –
Notabene: Er versimpelt’s.«
Ich stand auf und ging hinaus ins Rampenlicht, um den zerbrochenen Fächer aufzuheben – alle Spuren des Pulvers waren getilgt. Ich wickelte Kassiopeia in Orpheus’ Chlamys.
Kapitel 62
Opernloge 3, 2. Szene
Quelle: keine
Anna Maria lehnte sich über die Balustrade der Opernloge 3 und beobachtete die panische Menge unten im Saal. Stimmengemurmel stieg zu dem Kronleuchter auf, der über den Leuten in der Dunkelheit hing. »Es heißt, es sei nur eine Fleischwunde. Ihr Bruder Lars hat geholfen, den König nach oben in seine Gemächer zu tragen«, sagte sie mit aufgeregt leuchtenden Augen. Ein paar Gäste in den Logen daneben drehten sich nach ihr um, aus ihren geisterhaften Gesichtern sprach die Angst. »Der Attentäter stand direkt neben Gustav. Wie kann man nur so schlecht zielen!«, flüsterte sie.
Christian blickte auf, sein Gesicht war tränennass. »Sie haben diesem herzlosen Mörder Erfolg gewünscht?«
»Ich meinte damit nur, dass es schade ist, wenn man dem Erfolg so nah ist und er einem entgleitet.«
»Das glauben Sie?« Christians tadelnder Ton war unmissverständlich.
Anna Maria drehte sich zu ihm um. »Ich glaube, Ihre Tränen gelten nicht nur dem König. Die Perfektion Ihrer Fächer hätte den Nordéns ein Vermögen beschert, wenn man sie gesehen hätte, wenn man sie in großen Mengen hätte kopieren können.«
»Nur wenn die Leute auch dafür bezahlen, Fräulein Plomgren.« Christian schlug die Hände vors Gesicht. »Ich habe zu viel in sie investiert. Wir werden unser Geschäft verlieren.«
Anna Maria setzte sich neben Christian und legte ihm die Hand auf den Arm. »Vielleicht können
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