Das Stockholm Oktavo
hatte ihr Geschichten von Winterschläfern erzählt, vom brennenden Schlummer, der einen überkam, wenn die Kälte nicht mehr auszuhalten war. Dann floss eine rotglühende Wärme vom Scheitel durch alle Gliedmaßen bis in die Zehenspitzen. Die Extremitäten waren schwarz vom Frostbrand, wenn die Leichen gefunden wurden, oft war jedoch ein seliges Lächeln in ihre Gesichter eingefroren. Johanna legte sich hin und zog ihre Füße mit den Ziegenlederschuhen und ihre weißbestrumpften Beine unter ihr Kleid. Der Nordstern und Kassiopeia standen über ihr. Schlotternd vor Kälte schloss sie die Augen. Sie versuchte, an ihr Bad im Offizin zu denken, das in der kalten Herbstluft gedampft hatte, wenn die Sonne durch die Flaschen mit ihren Elixieren gefallen war und farbige Streifen an die Wand geworfen hatte; sie dachte an das frische Leinenhandtuch auf dem Stuhl neben der Wanne, den Hagebuttentee, den sie zu sich nahm, nachdem sie sich gereinigt hatte. An ihren Vater. Ihre Mutter. Ihre Brüder, so süß und wohlig. Die Kunden, die laut in der Apotheke geschwatzt hatten. Lauter und lauter wurden ihre Stimmen, bis sich der schwarze Schleier des Kälteschlafs hob. Sie träumte nicht – da oben gab es einen lärmenden Auflauf.
Da ihre Beine sie nicht länger trugen, krabbelte sie zur Straße hinauf. Ein Dutzend qualmende Fackeln beschienen eine Menschenmenge, die zur Norrbro strömte: vier berittene Offiziere, gefolgt von einer bizarren Parade aus Pierrots und Colombinas, Harlekinen, Schäfern, Engeln, Paschas und ganz normal gekleideten Städtern, die von dem Aufruhr geweckt worden waren. Ein Schwarm Dominos sammelte sich mit Saiteninstrumenten und Hörnern auf einer Seite, eine Marschkapelle wartete auf den Auftakt. In der Mitte fuhr eine prächtige Kutsche mit einem ledernen Armsessel, in dem ein Mann saß und zur Seite hing. Deutlich zu hören waren nur das Hufgeklapper und das Brutzeln der Fackeln. Das leise Getuschel der Menschen klang wie Schmelzwasser im März, das den Winter ins Meer hinaustrug.
Dieser Anblick ließ Johanna wieder das Blut in Arme und Beine schießen, sie kletterte hinauf und mischte sich unter die Leute. Als sie stolperte, hielt ein Fuchs sie am Arm, er half ihr über den glitschigen Steg der Brücke und hinauf zum Palast. Am Eingang zu den Kolonnaden hoben fünf Männer den Mann im Sessel aus der Kutsche und liefen zum Palastportal. Der Verletzte beugte sich vor und rief der Menge zu: »Ich bin wie der Papst, man trägt mich in einer Prozession!«
Johanna drehte sich zu einer Frau um, die als Haremsdame kostümiert war und hemmungslos weinte. »Wer ist das? Was ist passiert?«, fragte sie.
Die Haremsdame sagte hinter ihrem scharlachroten Schleier hervor: »Seine Majestät! Man hat auf ihn geschossen, aber es heißt, er würde überleben.« Der Khol von ihren schwarzumrandeten Augen lief ihr zusammen mit den Tränen übers Gesicht.
»Geschossen?« Johanna erstarrte, als die Leute vorwärtsdrängten und ihrem König in den Palast folgten. Um sie herum begann sich alles zu drehen, dann wurde sie in die Schwärze gezogen und verlor das Bewusstsein.
Kapitel 64
Zurück ins Nest
Quellen: E. L., M. F. L., Frau Murbeck, Sekretär K. L., Madame S., Katarina E., verschiedene Ballgäste
Meister Fredrik und ich warteten zwei Stunden, bis wir befragt wurden und gehen durften. Er machte sich auf den Weg nach Hause zu seiner Frau und seinen Söhnen. Ich rannte zurück zum Platz vor der Oper, um Johanna zu suchen, falls sie noch immer in der Kutsche eingesperrt wäre, aber alle noblen Karossen waren schon abgefahren. Auf dem Weg zur Baggensgatan betete ich, dass Johanna meine Nachricht übermittelt worden war und sie im orangeroten Haus Zuflucht gefunden hätte, aber bei Tantchen von Platen waren die Türen verschlossen, und keiner reagierte auf mein Hämmern. Ich rannte zum Köpmantorget, für den Fall, dass Johanna zu Linds Haus gelaufen wäre, aber eine weinende Frau Lind sagte, Meister Fredrik sei ausgegangen und Johanna nicht da. Mittlerweile war ich fast erfroren in meinem leichten Leinenkostüm und ging nach Hause, um warme Kleider und meinen elegantesten roten Rock anzuziehen. Ich weckte Frau Murbeck und überbrachte ihr die traurige Kunde, dann ging ich durch dunkle Gassen und über dunkle Plätze auf das einzige Licht und das einzige Geräusch in der Stadt zu, das vom Außenhof des Palastes zu sehen und zu hören war. Vielleicht war Johanna mit der Menge hierhergespült worden. Aber sie war
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