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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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Sie den Laden auf andere Weise in der Familie behalten. Vielleicht wollen Sie ihn an Ihren Bruder und mich verkaufen.«
    »Sie haben keinen Sinn dafür und er auch nicht«, sagte Christian betrübt. »Und denken Sie wirklich, er hätte so viel Geld?«
    »O ja. Lars hatte Glück an den Spieltischen«, sagte sie leise. »Er hat es Ihnen jedoch nie erzählt, weil er Angst hatte, das Geld würde in Ihrer perfekten, erlesenen, ungewollten Kunst versinken.«
    Christian wollte sie nicht ansehen. »Das ist der Weg zum Ende der Welt, Fräulein Plomgren. Das habe ich schon einmal erlebt.«
    »Es ist Ihre Wahl, Christian.« Anna Maria nahm ihre Hand von Christians Arm, zog den grauen Seidenfächer aus dem schwarzen Satinband an ihrer Taille und öffnete ihn leise. Es klopfte an eine Tür im Gang. Bald würde die Polizei kommen und auch sie verhören.
    »Ich bin diese Welt müde«, sagte er und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.
    »Ja, natürlich sind Sie das, lieber Schwager in spe.« Anna Maria legte ihm die freie Hand so zärtlich an die Wange, als wäre er ihr unartiges Kind. Der graue Fächer lag noch immer offen in ihrer Hand, die Silberstreifen glänzten matt in der dunklen Loge. »Ausgiebiger Schlaf wird Ihnen guttun.«
    »Margot wird wissen, was zu tun ist«, sagte Christian.
    »Natürlich wird sie das.« Anna Maria beugte sich zu ihm vor. »Jetzt machen Sie mal kurz die Augen auf, Christian, und werfen einen Blick in die Zukunft«, flüsterte sie. Sie hielt den Fächer parallel zum Boden und machte dann genau die Bewegungen, die sie von der Uzanne gelernt hatte. Sie blies am Mittelstab entlang in den Federkiel mit dem feinen grauen Pulver, gewürzt mit Giftmorcheln, das für den König bestimmt gewesen war. »Das
ancien régime
ist zu Ende, Bruder, ich bin die Zukunft.«

Kapitel 63

Gamla Norrbro
    Quelle: J. Blom
    Johanna kauerte neben einem Pfeiler der alten Brücke auf der Nordinsel, ihr Atem gefror in ihren widerspenstigen Haarsträhnen. Der Paletot des Kutschers bot keinen Schutz gegen die eisige Kälte. Sie schob sich die Ecke des Kragens in den Mund, damit ihre Zähne nicht klapperten, und bekam Wollflusen und Lanolin auf die Zunge. Die Stille war tief und dick wie das Eis am Rand des Norrström. Kein Mensch kam vom Opernhaus, keiner ging hin. Vier Militärwachen standen vor dem Eingang und hielten die Ordnung in der Menge aufrecht, die sich versammelt hatte und schweigend wartete. Gelegentlich wurde ein Schreckensschrei durch die kalte Luft getragen: »Verrat!« – »Mord!« – »Revolution!«
    In Ufernähe wirkte das Eis schwarz und massiv, doch weiter draußen brach es zu Schollen und fing den Lichtschein der zischenden Fackeln an der Brüstung ein. Immer wieder zuckte Johanna unter dem lauten Krachen zusammen, das Frühjahrsäquinoktium war nur noch fünf Tage entfernt, und das Eis lockerte seinen Griff um die Stadt. Zu dieser Jahreszeit forderte der Mälarsee immer ein, zwei Opfer, die dumm genug waren zu glauben, dass die Jahreszeiten ewig währten. Johanna überlegte, ob es die Rettung wäre: einfach auf dem brechenden Eis auf den See hinauszulaufen. Der Schmerz wäre kurz, man würde vom dunklen Wasser verschlungen und schnell unter die glasige Oberfläche gezogen werden, das Herz bliebe einem augenblicklich stehen. Dann die Schwärze. Sie wäre in einem Prisma gefangen, einem Paradies aus Licht.
    Ihre Finger waren ganz steif, sie zog die Hände unter den Paletot und steckte sie unter ihre Achseln, um sie ein letztes Mal zu wärmen. Sie spürte den vollkommenen Stoff ihres Mieders – weiche Seide, starre Fischbeinstäbe, den rauen Silberfaden der Stickerei. Sie spürte, wie die Spitze geschmeidig ihre Handgelenke umspielte, die gleiche Spitze rahmte auch ihre Brüste ein, die nie zuvor so entblößt, nie so dreist und auch nie so schön gewesen waren. Der ausgestellte Rock bauschte sich und raschelte unter dem Umhang. Hätte sie ihre alten Kleider getragen, die grauen, dann würde sie nicht zögern. Aber die Robe stand für so viele Hände: Sie konnte die Stiche der Näherin spüren, die Hand des Kammmachers, der das Fischbein für die Miederstützen presste, den Knopfmacher, der sich über die kleinen Perlen und Silberstücke beugte, die Spitzenklöpplerin, den Tuchfärber, den Stoffhändler, den Weber – deren aller Hände hielten sie an der Böschung fest.
    Johanna hockte sich hin, um sich auf ein Lager aus Schnee zu betten. Ihre Mutter stammte aus den Wäldern des hohen Nordens, sie

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