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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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nah genug an Gustav herankommen, damit er sie sah. Der König würde sie nie ignorieren. Er würde die vielen Dominos wegschicken, damit sie unter vier Augen miteinander reden könnten. Nun stand die Uzanne dicht bei ihm und strich über den Griff der Kassiopeia, wobei sie einen Kreis um den Ring am Stiel zog. Ich bahnte mir einen Weg zu ihr. Aus der Gruppe um den König ertönten eine Lachsalve und ein Schrei, die Uzanne fuhr zusammen. Mit großer Vorsicht öffnete sie ihren Fächer und flüsterte dem Blatt zu: »Jetzt!« Ihr Gesicht strahlte vor Glück und Spannung – bald wäre sie eine Heldin ihres Standes. Ihres Landes. Der ganzen Welt. Sie begann, Kassiopeia langsam und graziös zu drehen, sie lauschte den Kommentaren und Gefühlen, die von ihr ausgingen, und sandte Luftströme aus, die diejenigen in ihrem Weg entwaffnen würden. Doch sie hörte nur die Musik, und die Menge schenkte ihr keine Beachtung. Gustav drehte sich weg. »Irgendetwas stimmt nicht«, sagte sie und hielt den Fächer ganz still. Die schwarze, leere Kutsche stand dunkel und tot in der Mitte des Blatts, dahinter das stille Herrenhaus. Der Himmel war noch immer von flammendem Orangerot, das sich in das Indigoblau mischte. Die Pailletten auf der Rückseite glitzerten. Sie spürte den Federkiel und achtete darauf, seinen Inhalt nicht zu bewegen. Alles war, wie es sein sollte. Wieder fächelte die Uzanne zum König hin, damit er aufblickte und sie sah. Diese Bewegung war für sie inzwischen so natürlich wie das Atmen. »Fräulein Plomgren! Hier!«, rief sie laut und drehte den Kopf. Gustav blickte herüber, die Uzanne aber sah seinen Blick nicht.
    »Fräulein Plomgren tanzt«, sagte ich leise.
    »Ich glaube nicht, dass wir uns kennen«, sagte die Uzanne und schloss den Fächer.
    »O doch, wir kennen uns, aber wir könnten niemals Freunde sein.« Ich achtete darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, denn ich kannte ihre Reichweite und wusste, was der Fächer enthielt. »Ich bin mit der Nachricht einer Hellseherin hier, und sie meint, die Sterne seien Ihnen nicht günstig. Ihr Schicksal hat sich gewandelt.«
    »Wer sind Sie?« Die Uzanne wollte nach meiner Maske greifen, aber ich schlug ihre Hand weg. Sie öffnete den Fächer und richtete ihn mit der Rückseite nach vorn auf mich.
    »Es ist wie die Liebe – man kann sie nicht sehen, aber spüren«, sagte ich, darauf bedacht, sie unbedingt abzulenken, und hoffend, dass der König den Ball verließ und die Uzanne nicht am Mittelstab entlangblies. Die Glocken der Jakobskirche schlugen die Dreiviertelstunde. Fast Mitternacht.
    Sie sah an ihrem Fächer hinab, seine nachtblaue Rückseite absorbierte das Licht. Eine Glasperle blinzelte ihr von der Spitze des Mittelstabes zu, der aufgehende Nordstern, Kassiopeia hing darunter. Die Uzanne berührte die Seide, ihre Finger fuhren über die Nadelstiche, wo das Himmels-W gewesen war. Dann blickte sie auf und sah mich unerschrocken an. »Sie wurde tatsächlich verändert. Aber ich habe mich auch verändert. Glauben Sie etwa, ich hätte Angst davor, gehängt zu werden?«, flüsterte sie, dann stahl sie sich aus meiner Nähe in Richtung König und verschmolz mit der Menge. Ich hörte sie rufen: »Majestät, Eure Majestät, hier! Hier!«
    Endlich sah der König sie, sein Gesicht hellte sich vor Überraschung und Freude auf. Er wandte sich an seinen Stabsadjutanten Hauptmann Carl Fredrik Pollet und flüsterte ihm etwas zu, dann hob er für die Uzanne die Hand zum Gruß.
    Ich kämpfte mich mit Ellbogen hinter ihr her, meine Schreie verloren sich in Gesprächslärm, Musik und Gelächter. »Die Uzanne! Haltet sie! Haltet sie!« Ich stürzte vor, war nur noch eine Armeslänge von ihr entfernt. Aber Ribbing hatte sich als Wächter an die Uzanne gehängt und stieß mich brutal zu Boden. Ein lauter Trommelwirbel ertönte. Ich rappelte mich auf, als die dunkle Wolke der Dominos um den König herum zerstob wie auf ein Stichwort hin. Der Dirigent blickte gereizt auf und kritzelte etwas auf sein Notenblatt, aber das Orchester spielte weiter, und die Tänzer drehten sich unbeirrt im Reigen durch die Kreise auf der Bühne. Ich sah, wie Gustav nach von Essens Arm griff und sie zusammen zu einer Sitzbank an der Wand gingen. Die Uzanne war lediglich drei Schritte entfernt, als eine dichte Traube Soldaten den König umgab. Einer zog sein Schwert und schrie: »Alle Türen schließen! Keiner verlässt den Saal! Auf den König wurde geschossen!«
    Die Zimbeln klapperten, Metall klirrte,

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