Das Stockholm Oktavo
Und dennoch vollbringen Menschen unerklärliche Taten. Sie genesen von tödlichen Ansteckungskrankheiten, sie ziehen ihre Kameraden in der Schlacht unter gefallenen Bäumen hervor, sie haben Visionen, die die Zukunft vorwegnehmen, sie sterben und erstehen wieder auf. Man tut gut daran, für beides offen zu sein.«
Wir schwiegen. Auf beiden Seiten der schimmernden Straße dräuten die schwarzen Mauern der Wälder; die Fackeln am hinteren Ende des Schlittens zogen einen Schweif aus blauem Rauch hinter sich her. Abgesehen von den knarrenden Bäumen hörten wir nur die vom Schnee gedämpften Hufschläge und das leise Knallen der Kutschergerte.
In der Nähe der Oper stiegen wir aus. Madame Nordén fragte, ob ich mit ihnen zu Abend essen wolle. Das kam überraschend, aber da ich keine anderen Pläne hatte, nahm ich das Angebot an und ging mit ihnen in die Kocksgränd. Auf der Treppe klopfte ich den Schnee von meinen Stiefeln und betrat den dunklen Laden. Margot entzündete die Wandleuchten, die Schatten an die gestreiften Wände und an die wie zum Zeltdach geraffte Decke warfen. Sie breitete ein Tuch über einen Tisch, brachte drei weiche Bienenwachskerzen und zündete auch diese an. Wir aßen Hammelragout, das sie vorgekocht hatte, mit dicken Brotscheiben und Bratäpfeln. Wir sprachen über Paris und die brodelnden Tumulte – ein Potenzial für Fortschritt und Niedergang zugleich. Sie erzählten mir von ihrem Arbeitgeber und ihren Freunden dort und wie sie sich vergnügt hatten: Picknicks, Kostümbälle, Diners auf dem Dach von Telliers Atelier. Sie gaben zu, dass sie sich in Stockholm einsam fühlten, ich war einer ihrer neuen Kontakte: ich, Meister Fredrik und nun die Uzanne. Im Geiste ging ich meine acht Karten durch. Einer der Nordéns war sicherlich ein Teil meines Oktavos.
»Ich muss immerzu an Ihre Geometrie denken, Monsieur«, sagte ich und reichte Margot, die anfing abzutragen, meinen Teller. »Meinen Sie wirklich, sie ist die Grundlage des Lebens?«
»Die Mathematik als Ganzes.« Christian wischte sich den Mundwinkel ab. »Ich habe es gesehen, habe es selbst gespürt.«
»Unsere gemeinsame Freundin Madame S. teilt Ihre Ansichten. Ganz besonders angetan ist sie vom Achteck.«
Bei der Erwähnung der achtseitigen Figur lehnte er sich zurück. »Jeder wäre davon angetan, wenn er genau hinschauen würde, Herr Larsson. Es gehört zu einer Reihe geometrischer Formen, die zusammen das Freimaurer-Alphabet bilden. Es gibt eine Methode, das Achteck zu zeichnen, die ›Göttliche Geometrie‹ genannt wird.«
»Davon habe ich gehört.«
»Von den Freimaurern?«, fragte Nordén erstaunt.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin in der Loge noch nicht so weit wie Sie. Ich habe es von unserer Freundin Madame S. gehört. Sie verwendet die Göttliche Geometrie als Basis für eine kartomantische Divination, die Oktavo heißt.«
»Oktavo. Ein schöner Name für dieses Unterfangen«, fand Christian. »Es erinnert mich an das italienische Buch dieses Namens. Jedes Oktavo enthält eine Geschichte.«
»Was erwarten Sie von Ihrem Oktavo, Herr Larsson?«, fragte Margot.
»Liebe. Und Verbundenheit«, sagte ich errötend.
»Dieses Anliegen haben fast alle Wahrheitssuchenden überall auf der Welt gemeinsam.« Margot stand lächelnd auf und verließ den Raum mit einem Tablett voller Geschirr.
Christians Gesicht wurde weich und heiter, während er ihr nachblickte, dann wandte er sich wieder an mich: »Die Acht hat auf vielen Gebieten eine tiefe Bedeutung – Musik, Poesie, Religion. Fast alle Taufbecken sind achteckig, Sie können sich selbst davon überzeugen.«
»Ich versichere Ihnen, ich bin bereits getauft.«
»Ja, ja. Aber ein wimmerndes Kleinkind, das in das Wasser eines achteckigen Taufbeckens getaucht wird, ist nur der Anfang. Die Form, der das Oktavo entspringt, ist in jede Richtung unendlich. Die Wiedergeburt ist uns immer nah.« Er stand vom Tisch auf. »Das müssen Sie sehen, Herr Larsson!« Er eilte in die Werkstatt und kam mit einem abgegriffenen ledergebundenen Notizbuch wieder, eine Seite war aufgeschlagen. »Die Form kann sich in sich selbst hinein oder über sich selbst hinaus ausdehnen, in konzentrischen Kreisen und Vierecken, die, je nachdem, immer größer oder kleiner werden – ein Mikro- oder Makro-Universum, entsprechend der Absicht Ihrer Frage. Ich finde, es ist eine Art Unterschrift des Allerhöchsten.« Christians Gesicht strahlte vor Freude über diesen mathematischen Beweis des Göttlichen. »Weiß
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