Das Stonehenge - Ritual
an die alten Götter stammten.«
Gideon lächelt. Sein Vater, seines Zeichens Spezialist für Eigenwerbung, war dafür bekannt gewesen, dass er langweilige Universitätsvorlesungen gerne mit selbstgedrehten Filmen würzte. Auf dem Bildschirm verlässt der junge Professor gerade den Bereich des ehemaligen Grabens und erläutert, während er langsam den Steinkreis umrundet, eine inzwischen allgemein bekannte Theorie bezüglich der Entdeckung von mehr als zweihundert menschlichen Skeletten auf dem Gelände. »Der im siebzehnten Jahrhundert lebende Historiker John Aubrey fand jene verbrannten menschlichen Knochen in sechsundfünfzig verschiedenen Löchern. Waren sie ebenfalls Opfergaben an die Götter? War Stonehenge sowohl ein Krematorium als auch ein Tempel – ein rituelles Schlachthaus, dessen Schlächter auf himmlischen Lohn hofften?«
Nachdem Gideon bereits die Tagebücher gelesen hat, die ein Jahrzehnt nach diesen Filmaufnahmen entstanden, erscheint es ihm seltsam, dass sein Vater die Frage in einem so skeptischen Ton stellt. Noch seltsamer findet er den Gedanken, dass besagte Theorie tatsächlich der Wahrheit entsprechen könnte. Die Aufzeichnung springt zum letzten Stadium der Entstehungsgeschichte: »Vor etwa dreitausend Jahren verfrachteten unbekannte Hände diese Blausteine von den Preseli-Bergen hierher. Wir wissen nach wie vor nicht, wie ihnen das gelungen ist. Die Steine wurden als kreisförmiges Monument aufgestellt, der Eingang nach dem Sonnenaufgang am Tag der Sommersonnenwende ausgerichtet.« Die Hand zum Himmel emporgereckt, steuert Nathaniel auf die größeren Sandsteine zu. »Betrachten wir nun einmal diese riesigen Sarsensteine, von denen einige dreimal so groß sind wie ich und ganze vierzig Tonnen wiegen. Von unglaublich fähigen antiken Bauherren in eine vertikale Position gebracht, erhielten sie eine Art umlaufendes Dach aus horizontal angebrachten Sarsensteinen, wobei raffinierte Zapf-Schlitz-Verbindungen zum Einsatz kamen – eine Technik, die der damaligen Zeit weit voraus gewesen sein dürfte.« Er geht in den Steinkreis hinein. »Hier, im Herzen des Henge, eine hufeisenförmige Anordnung: fünf Paare aufrecht stehender Sarsensteine mit riesigen horizontalen Decksteinen – die Trilithen.«
Gideon sieht sich den Rest des Films in doppelter, zum Teil sogar vierfacher Geschwindigkeit an, was die komische Wirkung hat, dass sein Vater in einem Höllentempo über das Gelände saust und mit hektischen, ruckartigen Bewegungen auf den Fersenstein, den Schlachtstein und den in Nordosten liegenden Eingang deutet.
Gideon legt eine kurze Pause ein, macht sich eine Tasse Tee und kehrt dann zurück, um sich das letzte, nicht katalogisierte Video anzusehen. Als er es aus seiner Pappehülle zieht, entdeckt er in der Mitte einen Aufkleber, der nicht die verblasste Handschrift seines Vaters trägt. Auf dem Etikett steht: »Für Gideon, meinen liebevollen Sohn, der mich stets mit Stolz und Freude erfüllt.«
Obwohl er die Handschrift schon Jahrzehnte nicht mehr gesehen hat, erkennt er sie sofort. Es ist die Schrift seiner Mutter.
65
Jimmy Dockery schlüpft in einen Spurensicherungs-Overall und flucht über die Tatsache, dass er mal wieder derjenige ist, der mitten in der Nacht hinausgeschickt wird. Als würde er sich um die schlimmsten Jobs reißen – die Friedhofsschichten mit ihren üblichen, langweiligen Tatorten. Sobald es irgendwo Dreck aufzuwischen gibt, lautet die Devise offenbar: Jimmy wird es schon machen. Erst lässt man ihn hinter irgendwelchen Vermissten herjagen, dann das Schlamassel beseitigen, das ein alter Selbstmörder hinterlassen hat, und nun steht zur Abwechslung mal eine ausgebrannte Scheune auf dem Programm. Dabei hält er sich selbst für einen begnadeten Ermittler, der für so etwas viel zu schade ist. Wenn sein Vater, der stellvertretende Polizeichef, auch nur die leiseste Ahnung davon hätte, welchen Mist man ihm ständig aufs Auge drückt, dann würde er die Verantwortlichen allesamt rauswerfen.
Dockery zückt seinen Dienstausweis und schiebt sich unter dem flatternden gelben Absperrungsband hindurch. Nachdem sich ein erschöpft aussehender Constable seinen Namen notiert hat, tritt er hinein in das rußgeschwärzte Gerüst der Scheunenbalken. Scheinwerfer der Spurensicherung beleuchten die verkohlten Metallreste des Campingbusses – allem Anschein nach eine ausgebranntes Version des Modells aus den Videoaufzeichnungen, die man Jimmy an der Autobahntankstelle
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