Das Stonehenge - Ritual
Leib schreien kann, ohne dass einen jemand hört.
Wieder muss sie an Erics Warnungen denken. An die Horrorgeschichten über entführte Frauen, die er ihr erzählt hatte, um sie davor zu bewahren, leichtsinnig zu werden. Danielle Cramer aus Connecticut, ein ganzes Jahr lang in einer geheimen Kammer unter einer Treppe eingesperrt. Nina von Gallwitz, einhundertneunundvierzig Tage lang festgehalten, bis ihre Eltern über eine Million D-Mark zahlten, um sie zurückzubekommen. Fusako Sano aus Japan, zehn Jahre lang gefangen gehalten. Ein ganzes Jahrzehnt.
Caitlyn kann sich genau an ihre Geschichten erinnern. Und an ihre Gesichter. Dabei waren das diejenigen, die noch Glück hatten. Eric zeigte ihr auch die lange Liste holländischer, amerikanischer, englischer und italienischer Frauen, für die es nicht so gut ausgegangen war. Frauen, die entführt, festgehalten und trotz erfolgter Lösegeldzahlung getötet worden waren.
Caitlyn erinnert sich noch genau daran, was Eric in diesem Zusammenhang zu ihr gesagt hat, und seine Worte machen ihr Angst: »Sie entführen dich, um dich zu vergewaltigen und zu quälen oder um an das Geld deiner Eltern zu kommen oder sich aus irgendwelchen Gründen an ihnen zu rächen. Solche Leute sind gefährlich, Caitlyn. Manche sind verrückt genug, dich zu entführen, nur um berühmt zu werden. Was auch immer zu tust, entziehe dich niemals unserem Schutz.«
Doch genau das hat sie getan. Sie hat einen Fehler gemacht, den sie nicht wiedergutmachen kann. Am liebsten würde sie losheulen. Sich das Herz aus dem Leib schluchzen. Aber das kommt für sie nicht in Frage – jetzt nicht, und auch später nicht. Sie ruft sich ins Gedächtnis, dass sie während der ganzen neununddreißig Tage ihrer Teilnahme an
Survivor
kein einziges Mal geweint hat. Sie hat ganz bestimmt nicht vor, in ihrer momentanen Situation damit anzufangen.
Caitlyn versucht, sich abzulenken. Sie ruft sich ihre Zeit bei der Reality-Show ins Gedächtnis. Die Willkommensfeier, die ersten Aufgaben, die Kerle, die scharf auf sie waren. Neununddreißig Tage. Zwanzig Personen, gegen die es anzutreten galt. Fünfzehn Episoden, die sie berühmt machten. Einmal schwamm sie während der Live-Übertragung nackt. Die Zensoren bekamen einen Anfall. Beinahe wäre die ganze Serie eingestellt worden. Aber die Zuschauerzahlen schossen wie wild in die Höhe.
Sie würde es genau so wieder machen. Jederzeit. Schock und Glamour sind mittlerweile ihr zweiter und dritter Vorname. Der Gedanke lässt sie fast lächeln. Selbst in diesem staubigen Loch von einem Gefängnis kann sie die Süße ihres alten Lebens noch schmecken – das Geld, den Ruhm, den Rummel um ihre Person, ausgelöst durch ihr wildes Wesen. Aber wie lange noch? Das ist die Frage, die Caitlyn sich stellt: Wie lange wird es dauern, bis diese Wichser sie in den Wahnsinn treiben?
64
Vor Gideon liegen nur noch zwei Kassetten.
Fast vierzig hat er schon hinter sich, und er ist fest entschlossen, sich die letzten beiden auch noch anzusehen, bevor er schlafen geht.
Nachdem er die eine eingelegt hat, erscheint sein Vater auf dem Bildschirm. Der junge Professor wirkt kaum älter als Gideon jetzt. Nach ein paar Sekunden ist Marie Chase hinter der Kamera zu hören: »Ich glaube, es funktioniert, Nate. Doch, ja, das rote Licht blinkt. Du kannst anfangen, wenn du magst.«
Nathaniel macht sich bereit, indem er tief durchatmet und eine Haarsträhne zurückstreicht, die ihm der Wind ins Gesicht geblasen hat. Er trägt einen dicken blauen Wollpullover, eine dunkle Hose und Wanderstiefel. Obwohl Schnee liegt, ist der Hintergrund Gideon nur allzu vertraut. Stonehenge. »Wir reisen nun gemeinsam fast fünftausend Jahre in die Vergangenheit«, verkündet er mit einer ausladenden Geste, »zurück in jene Zeit, als unsere Vorfahren hier einen kreisförmigen Graben aushoben. Der Kreis hatte einen Durchmesser von rund neunzig Metern, und der Graben selbst war sechs Meter breit und gut zwei Meter tief.« Er kauert sich auf den Boden und legt die Hände auf eine Furche, anhand deren man noch erkennen kann, wo der Graben einst verlief. »Hier drunter fanden Archäologen die Knochen von Tieren, die bereits zweihundert Jahre vor der Entstehung dieses Grabens gestorben waren. Was hat unsere Vorfahren dazu bewogen, sie hier zu platzieren? Warum benutzten sie einen Haufen alter Knochen, um damit den Verlauf eines neuen Grabens zu markieren? Die Antwort lautet natürlich, dass besagte Knochen aus besonderen Opfergaben
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