Das Stonehenge - Ritual
Morgen.«
66
Gideon spürt sein Herz schlagen, als er die alte Videokassette einlegt.
Die Frau, die auf dem Bildschirm erscheint, ist kaum noch als die von ihm geliebte Mutter zu erkennen. Er hatte damit gerechnet, sie erneut in ihrer ganzen Schönheit zu sehen, genau wie auf dem Video aus Venedig: lachend, energiegeladen, voller Leben. Doch das ist ihm nicht vergönnt.
Sie sitzt in ihrem Krankenbett, den Rücken gegen einen unförmigen weißen Berg aus Kissen gelehnt. Nach dem Aufnahmewinkel zu urteilen, filmt sie sich selbst. Ihr bis auf die Knochen abgemagertes Gesicht, das vorzeitig ergraute, krause Haar und die blutunterlaufenen Augen sprechen eine deutliche Sprache.
Marie Chase ist dem Tod schon sehr nah, als sie ihrem Sohn durch die Videokamera und die Jahrzehnte ein Lächeln schickt. »Giddy, mein Liebling, du wirst mir so fehlen. Ich hoffe, du wirst ein langes und sehr glückliches Leben führen und selbst erfahren, was für eine Freude es ist, ein Kind zu bekommen. Deine Geburt war die Krönung meines Lebens. Mein größter Wunsch war immer, mit dir und deinem Vater glücklich zu sein.« Sie kämpft sichtlich gegen die Gefühle an, die sie zu überwältigen drohen. »Leider ist uns das nicht vergönnt, mein Liebling. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, aber ich muss dir noch etwas sagen, deswegen hinterlasse ich dir diese Nachricht. Du sollst sie dir erst ansehen, wenn du älter bist – alt genug, um nicht mehr so zu erschrecken, wenn du mich in diesem Zustand siehst.«
Gideon muss sich ein paar Tränen aus dem Gesicht wischen. Zum ersten Mal wird ihm klar, dass man ihn in der Phase, als seine Mutter unter großen Schmerzen dahinzusiechen begann, nicht mehr zu ihr gelassen hatte, so dass er ihre letzten Tage nicht miterlebte. Auch Marie Chase muss am Ende doch weinen, als sie die Arme nach ihrem einzigen Kind ausstreckt. »Giddy, niemand außer dir hat diese Aufnahme je zu Gesicht bekommen, und niemand
wird
sie je zu Gesicht bekommen. Sie ist weder für die Augen deines Vater noch für sonst jemanden bestimmt. Nur für dich. Es gibt da nämlich etwas, das ich dir persönlich sagen muss, und dein Vater respektiert das. Er ist ein guter Mann und liebt dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich hoffe, ihr werdet euch umeinander kümmern, wenn ich nicht mehr da bin.« Sie greift nach einem Glas Wasser, das auf ihrem Nachttisch steht, und hebt es kurz an ihre ausgetrockneten Lippen, ehe sie sich zu einem weiteren Lächeln zwingt.
Gideon lächelt zurück. Sie fehlt ihm immer noch. Mehr, als er sich selbst jemals eingestanden hat.
Marie Chase bringt ihre Nachricht von jenseits des Grabes zu Ende – ihre letzten Worte an den Sohn, den sie nicht aufwachsen sah.
Ganz zum Schluss sagt sie, was sie abends immer zu ihm sagte, wenn sie die Nachttischlampe ausschaltete und ihn auf die Stirn küsste: »Es gibt nichts, wovor du dich fürchten musst, mein Schatz. Ich liebe dich und werde immer für dich da sein.«
Auf dem Bildschirm ist für einen Moment ein Schneesturm aus grauem Geflimmer zu sehen, dann schaltet das Gerät lautstark auf Zurückspulen um. Gideon starrt auf den leeren Bildschirm. Ihm schwirrt immer noch der Kopf von dem schockierenden Geheimnis, das sie ihm gerade mitgeteilt hat.
67
Um drei Uhr morgens taucht Jimmy Dockery mit einer Tasse Kaffee an Megan Bakers Schreibtisch auf. »Haben Sie eine Minute für mich Zeit, Boss?«
»Klar.« Sie deutet auf einen Stuhl. »Was haben Sie denn auf dem Herzen?«
Er sieht extrem müde aus und lässt sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. »Ich wollte mit Ihnen über den Jungen sprechen, der in dem Campingbus ums Leben gekommen ist.«
»Timberland.«
»Ja.«
»Keine Sorge, ich habe nicht vor, Sie darum zu bitten, die Eltern zu informieren. Das können die Londoner Kollegen übernehmen. Sie haben schon Kontakt mit ihnen aufgenommen, nachdem wir die Amex-Rechnungen ihres Sohnes überprüft hatten.«
»Darum geht es gar nicht.«
»Worum dann?«
Er stößt erst einmal ausgiebig die Luft aus und stärkt sich mit einem Schluck Kaffee. »In dem ausgebrannten Wagen hat es schrecklich ausgesehen. Abgerissene Körperteile, vermutlich durch die Wucht der Explosion, geschmolzene Haut. Der Kopf nur noch ein großer schwarzer Ball. Irgendwie konnte ich das alles gar nicht so recht glauben.«
Nun versteht sie. Er ist völlig am Ende und möchte nicht mit seinen männlichen Kollegen darüber sprechen, wie sehr ihn das Ganze mitgenommen hat. »Soll ich dafür
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