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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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gelassen. Dass die vier getrennter Wege gehen mussten, wusste sie. Sie erinnerte sich, dass ihr diese Tatsache in jener letzten Nacht auf der Seele gelegen hatte. (Warum nannte sie es ihre »letzte« Nacht?, fragte sie sich.) Aber es war ja nicht so, dass sie die Seuche hatte. War etwas an Sarahs Andeutungen dran? Waren Hugo und Damon durch das, was ihr widerfahren war, peinlich berührt? Gar beschämt? Hatten sie Angst, ihr gegenüberzutreten? Aber warum sollten sie?, fragte sie sich. Nun ja, sie mussten arbeiten. Bestimmt würden sie wiederkommen, sobald sie wegkonnten, genau wie Sarah gesagt hatte. Und Galen war wahrscheinlich schon längst unterwegs.
      Sarahs Besuch hatte ihre Laune ein wenig aufgeheitert. Außerdem hatte er ihre Neugier entfacht. Offensichtlich steckte mehr hinter dieser Sache, als sie sich bewusst war. Konnte sie den Arzt wirklich dazu bringen, offener zu sein, wenn sie ihn beständig nervte oder Schreikrämpfe hatte?
      Immerhin gab es eine Sache, die sie gleich jetzt tun konnte. Vorsichtig schob sie die Bettdecke hinunter und begann ihr Nachthemd aufzuknöpfen. Das ging nur langsam vonstatten, da ihr starker Arm am Tropf hing und sie mit den schwachen und unbeholfenen Fingern der linken Hand herumfummeln musste. Sie glaubte eigentlich nicht, dass sie besonders weit kommen würde, doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie, einmal angefangen, nicht mehr aufhören konnte, ganz  gleich wie schwierig und schmerzhaft die Bewegungen waren.
      Schließlich gelang es ihr, die ersten vier Knöpfe zu öffnen. Da es mühsam war, ihren Kopf vorzubeugen und hinunterzuschauen, rutschte sie zurück auf die Kissen und sank gegen das Kopfende des Bettes. In dieser Position konnte sie ihren Kopf nach vorn neigen, ohne den Nacken zu überanstrengen. Zuerst konnte sie überhaupt nichts sehen. Das Nachthemd schien immer noch zu eng um ihre Brüste zu liegen. Sie hielt einen Moment inne und zog dann mit der freien Hand daran. Als sie erneut hinabschaute, begann sie zu schreien.
     
     

* 13
    Martha
     
    Der Lucky Fisherman, etwas abseits gelegen, entpuppte sich als schlichte, kleine Eckkneipe, die hauptsächlich von Einheimischen besucht wurde. Martha konnte keinen Unterschied zwischen dem Barbereich und dem Salon erkennen, in beiden standen die gleichen runden Tische und wackeligen Holzstühle. Das Holz war alt und zerkratzt, und eine der geprägten Glasscheiben zwischen den Streben der Tür war gesprungen. An einem Ende des Raumes hing eine Dartscheibe, an der niemand spielte, als sie um fünf nach sieben hereinkam.
      In dem Lokal befanden sich nur wenige Gäste, von denen die meisten lässig an der Theke lehnten und mit dem Wirt plauderten. Keith saß an einem Tisch in der hinteren Ecke unter einer gerahmten Fotografie, ein altes sepiafarbenes Panorama von Whitby zur Zeit des Walfangs mit hochmastigen Schiffen im Hafen und stämmigen Männern in Südwestern - ähnlich den Männern auf den Packungen von Fisherman's-Friend-Husten-pastillen -, die an dem Geländer der St. Ann's Staith lehnten und stummelige Pfeifen rauchten. Das Geländer war damals aus Holz gebaut, fiel Martha auf: ein langer Balken, der von einzelnen Stützen gehalten wurde.
      »Guten Tag?«, sagte Keith, der sich zur Begrüßung erhob.
      »Guten Tag«, antwortete Martha.
      Er lachte. »Nein, ich wollte fragen, ob Sie einen guten Tag hatten? Wir reden nicht alle wie Paul Hogan, müssen Sie wissen.«
      Martha legte ihre Tasche auf einen freien Stuhl und nahm ihm gegenüber Platz. »Wer?«
      »Paul Hogan. Crocodile Dundee. Ein berühmter Aussie. Gott, gehen Sie nie ins Kino oder gucken Fernsehen?«
      Martha schüttelte den Kopf. Sie entsann sich dunkel des Namens, doch es schien Ewigkeiten her zu sein, weshalb sie sich an keine Einzelheiten erinnern konnte. Offenbar hatte ihr Gedächtnis keinen Platz mehr für derart triviale Dinge.
      »Was tun Sie denn, wenn Sie sich einfach mal unterhalten lassen wollen?«
      »Ich lese.«
      »Aha. Sehr vernünftig. Einen Drink?«
      »Ein Bitter. Aber nur ein kleines, bitte.«
      Keith ging zur Theke und kehrte mit ihrem Bier und einem weiteren Pint für sich zurück.
      »Und wie war nun Ihr Tag?«, fragte er wieder.
      »Gut.« Es war lange her, dass Martha in einer solchen Situation mit einem Jungen geredet hatte - einem Mann, um genau zu sein - oder sich überhaupt mit jemandem unterhalten hatte. Sie schien all ihre Fähigkeit zum Small Talk verloren

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