Das stumme Lied
denjenigen finden, den sie suchte. Das könnte ein oder zwei Tage dauern, aber sie würde Erfolg haben. Er war in der Nähe, daran gab es keinen Zweifel. Sie spürte wieder ein ängstliches Schaudern, ihr Selbstvertrauen schwankte. Wenn es an der Zeit war, würde sie all ihren Mut zusammennehmen müssen und tun, was getan werden musste. Sie steckte eine Hand in ihre Tasche und tastete nach ihrem Talisman. Der würde ihr natürlich helfen - er und die Seelen, die sie führten.
Nach einer Weile schnippte sie die Zigarette ins Meer und stand auf. Angst ist etwas für die Passiven, sagte sie sich. Wer handelt, hat keine Zeit, Angst zu haben. Sie wischte das Gras und den Sand von ihrer Jeans und ging zurück zum Pfad.
* 12
Kirsten
Die Krankenschwester streckte den Kopf durch die Tür. »Besuch für Sie, Herzchen.« Hinter ihr konnte Kirsten die Schultern des uniformierten Polizisten erkennen, der vor der Tür saß. Dann ging die Tür ganz auf und Sarah kam herein.
»Sarah! Was machst du denn hier?«
»Das ist ja eine schöne Begrüßung! Dabei war es gar nicht leicht. Zuerst musste ich eine Erlaubnis von diesem verdammten Detective Superintendent kriegen. Und als hätte das noch nicht gereicht, musste ich auch noch an Dixon von Dock Green da draußen vorbei.« Sie deutete mit dem Daumen zur Tür, zog dann einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Eine Ewigkeit schaute sie Kirsten nur an, dann begann sie zu weinen. Sie beugte sich vor, und die beiden umarmten sich so gut es ging, ohne den Infusionsschlauch zu verschieben.
»Komm«, sagte Kirsten und tätschelte ihren Rücken. »Du tust meinen Nähten weh.«
Sarah rückte von ihr ab und lächelte gequält. »Tut mir Leid, Liebes. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Wenn ich mir überlege, was du alles durchgemacht haben musst ...«
»Hör auf«, sagte Kirsten. In ihrem Zustand brauchte sie die unverfälschte Sarah: maßlos, pragmatisch, erdverbunden, lustig, zornig. Sie hatte die Nase voll von Mitgefühl, erst recht von Mitleid. »Kein Wunder, dass du es schwer hattest, reinzukommen, so wie du angezogen bist«, fuhr sie schnell fort. Sarah trug ihre übliche Uniform aus Jeans und T-Shirt. Auf dem T-Shirt, das sie diesmal trug, stand in fetter Schrift: EINE FRAU BRAUCHT EINEN MANN WIE EIN FISCH EIN FAHRRAD. »Sie halten dich wahrscheinlich für eine Terroristin.«
Sarah lachte und trocknete ihre Augen mit dem Handrücken. »Wie geht es dir denn nun, Kindchen?«
»Ganz gut, nehme ich an.« Und das stimmte teilweise. An diesem Tag fühlte sich Kirsten tatsächlich etwas besser - zumindest körperlich. Ihre Haut fühlte sich schon wieder mehr wie früher an und die beängstigenden inneren Schmerzen hatten während der Nacht abgenommen. Im Innern fühlte sie sich jedoch taub, außerdem hatte sie noch immer nicht den Mut gefunden, selbst nachzuschauen.
»Sehe ich schlimm aus?«
Sarah begutachtete stirnrunzelnd ihr Gesicht. »Nicht so übel. Die meisten Schwellungen scheinen abgeklungen zu sein und dein Gesicht hat keine bleibenden Schäden erlitten, keine Entstellungen. Ich würde sagen, du siehst im Grunde nicht schlimmer aus als sonst.«
»Vielen Dank.« Doch Kirsten musste lächeln. Nach ihrem kurzen Heulanfall war Sarah wieder ganz die Alte.
»Aber du musst höllische Schläge abbekommen haben.«
»Muss ich?«
»Meinst du, du weißt es nicht?«
»Keiner hat mir erzählt, was passiert ist.«
»Das sieht diesen verdammten Ärzten ähnlich. Ich nehme an, er ist ein Mann?«
»Ja.«
»Siehst du, da haben wir's. Was ist mit der Krankenschwester?«
»Sie scheint zu ängstlich zu sein, um viel zu sagen.«
»Hat bestimmt Schiss vor ihm. Er ist wahrscheinlich ein echter Tyrann. Das sind die meisten Ärzte.«
»Die Polizei hat auch nichts gesagt.«
»Die sind noch schlimmer.«
»Weißt du denn, was passiert ist?«
»Alles, was ich weiß, meine Liebe, ist das, was in der Zeitung stand. Du wurdest im Park von einem Verrückten überfallen und niedergestochen und geschlagen.«
»Niedergestochen?«
»So stand es in der Zeitung.«
Vielleicht erklärte das die Nähte und das Gefühl, dass ihre Haut verrutscht war und zwickte. Sie holte tief Luft und fragte: »Bin ich auch vergewaltigt worden?«
»Wenn, dann hat die Zeitung nichts davon erwähnt. Aber so wie ich die Presse kenne, hätten die sich auf so was gierig
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