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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Fliege, die sie ständig verscheuchen musste. Sie musste allein sein, doch sie konnte noch nicht entkommen. Sie musste das Spiel mitspielen.
      »Sie promovieren also?«, wollte er wissen.
      »Ja. Ich habe meinen Abschluss und promoviere jetzt in Bangor.«
      »Und dieses Buch ist Ihre Doktorarbeit?«
      »So in der Art.«
      Es war entsetzlich, wie eine dieser schrecklichen Befragungen, die sie hatte über sich ergehen lassen müssen. Während sie Keiths dumme Fragen beantwortete, achtete Martha die ganze Zeit auf das Dartspiel hinter ihr. Ihre Haut brannte und ihr Puls schlug viel zu schnell.
      Schließlich kam das Spiel zum Ende. Der Mann, den sie beobachtet hatte, ging hinüber an die Theke, wo sie ihn aus dem Augenwinkel sehen konnte, und stellte sein leeres Glas auf den Tresen. »Das reicht für heute«, sagte er zum Barkeeper. »Bis morgen, Bobby.« Der Dialekt passte, die Stimme heiser.
      »Nacht, Jack«, sagte der Barkeeper.
      Martha beobachtete, wie Jack zum Ausgang ging. Ehe er die Tür öffnete, schaute er kurz in ihre Richtung, zeigte aber immer noch mit keiner Regung, dass er sie erkannte. Sie sah auf ihre Uhr. Es war Viertel vor zehn. Irgendwie hatte sie das Gefühl, das eben Geschehene war eine Art allabendliches Ritual: Jack beendete sein Spiel, stellte sein Glas auf den Tresen und machte eine Bemerkung darüber, wie spät es war. Wenn er ein Fischer war, dann würde er wahrscheinlich früh am Morgen aufstehen müssen. Aber sollte er nicht längst auf See sein? Das war alles ziemlich verwirrend. Doch hatte er tatsächlich die Angewohnheit, jeden Abend herzukommen, dann könnte sie morgen zurückkehren, wenn Keith aus dem Weg war, und ... Nun, der nächste Schritt erforderte sorgfältige Planung und eine Menge Geduld, aber sie hatte ja Zeit genug.
      »Wollen Sie gehen?«
      Nur mühsam, als müsste sie ihren Blick auf etwas weit Entferntes einstellen, richtete Martha ihre Aufmerksamkeit wieder auf Keith. Sie nickte und griff nach ihrer Tasche. Die warme, frische Luft draußen tat ihren Lungen gut. Hoch über St. Mary's schwebte ein heller Halbmond.
      »Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?«, fragte Keith.
      »Einverstanden.«
      Sie gingen die East Terrace entlang, vorbei an den großen, weißen viktorianischen Hotels, zur Statue von Cook. Als sie unter dem Kieferknochen des Wales hindurchgingen, blieb Keith stehen und sagte: »Das muss aufregend gewesen sein, die Jagd nach Walen.«
      »Ich wäre wohl eine der wartenden Frauen gewesen«, sagte Martha, »die darauf hofft, den Kieferknochen eines Wales an den Mast genagelt zu sehen.«
      »Was?«
      »Das war ein Zeichen. Es bedeutete, dass alle wohlauf waren. Die Frauen sind damals hier herauf nach West Cliff gekommen, um Ausschau nach den heimkehrenden Schiffen zu halten.« Martha betrachtete den riesigen, gewölbten Knochen. Von dort, wo sie stand, rahmte er so perfekt die beleuchtete St. Mary's Church jenseits des Hafens ein, als wäre das gesamte Arrangement von einem Künstler entworfen worden.
      »Dabei kann ich mir Sie nur schwer vorstellen«, sagte Keith und ging langsam weiter. »Beim Ausschauhalten und Warten.«
      »Warum sagen Sie das?«
      »Na ja, ich kann natürlich nicht behaupten, dass ich Sie richtig kenne, aber Sie machen mir den Eindruck, eine moderne Frau zu sein, unabhängig und so weiter. Sie wären wahrscheinlich viel eher draußen auf einem Schiff gewesen.«
      »Man hat keine Frauen mitgenommen.«
      »Das habe ich auch nicht gedacht. Aber Sie wissen, was ich meine.«
      Martha wusste es nicht. Es war seine erste wirklich persönliche Bemerkung gewesen und sie erstaunte sie. Wie konnte jemand für ein oder zwei Stunden einfach dasitzen und über unwichtige Dinge reden und dann mit einer solchen Meinung kommen? Sie hatte ihn die meiste Zeit nicht einmal beachtet. Konnte er tatsächlich in ihr Inneres schauen? Sie hoffte nicht. Er würde nicht mögen, was er sah.
      Neben der Cook-Statue setzten sie sich auf eine Bank und schauten hinaus aufs Meer. Eine kühle Brise zerzauste ihr Haar, irgendwo in weiter Ferne schien die Spiegelung des Mondes zu treiben, dessen unheimliches weißes Licht sich dennoch, so weit das Auge reichte, über alle Wellen und Wogen des Wassers ausbreitete.
      Martha musste an die Passage in Lawrences Verliebte Frauen denken, wo Birkin Kieselsteine auf die Spiegelung des Mondes in einem Teich warf. Die Szene sollte irgendetwas symbolisieren, hatte

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