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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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meisten Gäste gegen halb vier Uhr am Morgen geweckt; dadurch hatten sie ein sicheres und neutrales Thema bei Black Pudding und gegrillten Pilzen, die erneut zum üblichen Speck mit Eiern serviert wurden.
      Martha aß schnell, wünschte Keith eine gute Reise und eilte nach oben. Sie hatte nicht gut geschlafen. Nicht nur die aasfressenden Möwen hatten sie gestört, sondern auch Gedanken und Ängste über das, was sie als Nächstes tun musste. Seit Wochen hatte sie es geplant und davon geträumt und war es im Geiste so häufig durchgegangen, dass sie die Tat im Schlaf durchführen konnte. Doch jetzt, da sie näher rückte, bekam sie Angst. Was, wenn etwas schief lief? Was, wenn sie es im entscheidenden Moment nicht fertig brachte? Selbst die Heiligsten hatten ihre Zweifel, erinnerte sie sich. Der Glaube würde ihr beistehen.
      Jenseits des Hafens hingen ein paar Schäfchenwolken über St. Mary's, trieben jedoch langsam landeinwärts. Die Sonne strahlte auf die Cottages, die am steilen Hang lagen. Hinter St. Hilda's am anderen Ende der Straße war der Himmel klar. Eine leichte Brise wehte durch das Fenster und trug den Salz- und Fischgeruch des Meeres heran.
      Martha wusste nicht, was sie während des Tages mit sich anfangen sollte. Vor Anbruch der Nacht konnte sie nicht zur Tat schreiten und die Lage hatte sie bereits sondiert. Allerdings würde es verdächtig aussehen, wenn sie in ihrem Zimmer bliebe, besonders an einem so herrlichen Tag am Meer. Warme Schönwetterperioden waren selten an der Küste von Yorkshire. Sie würde auf jeden Fall hinausgehen müssen.
      Sie wartete, bis sie gehört hatte, dass die anderen Gäste ausgegangen waren, hoffte, dass Keith unter ihnen war, und schlich dann die Treppe hinunter und hinaus in die Morgensonne. Auf der Skinner Street spazierten bereits Liebespaare Hand in Hand entlang, zufrieden nach einer Liebesnacht zur Musik der schreienden Möwen. Familien blieben vor den Souvenirläden stehen und betrachteten müßig die Ständer mit Postkarten und Reiseführern. Kinder in Shorts und gestreiften T-Shirts mit grellen Plastikeimern und Schaufeln bettelten um Eis. In Kinderwagen schliefen Babys, ohne den Lärm und das Treiben in ihrer Umgebung wahrzunehmen.
      Martha ging in den erstbesten Zeitungsladen und kaufte die Times und eine Zwanzigerschachtel Benson & Hedges. Die zehn Rothmans, eine Marke, die sie ohnehin nicht besonders mochte, hatten nicht lange gereicht, jetzt wollte sie nicht plötzlich ohne Zigaretten dastehen.
      Einundzwanzig Jahre lang hatte sie keine einzige Zigarette geraucht. Und nun war sie innerhalb eines Jahres abhängig geworden.
      Sie schlenderte die bevölkerte Flowergate, eine enge, mit Geschäften gesäumte Gasse, hinab in Richtung Flussmündung. Über ihr kreischten die Möwen und funkelten weiß in der Sonne. Als sie die Brücke erreichte, schaute sie auf der Kreidetafel nach den Zeiten der Flut: 06:39 und 19:02. Jetzt war es zehn Uhr; das Wasser strömte also bereits aufs Meer hinaus. Damit sie sie nicht vergaß, trug sie die Zeiten in ihr Notizbuch ein.
      Ein Problem in ihrem Bed and Breakfast war, dass die Frau des Inhabers fürchterlichen Kaffee machte. Da ihr löslicher Kaffee zuwider war, hätte Martha lieber Tee trinken sollen. Doch jetzt sehnte sie sich nach einem Koffeinschub, wie ihn nur eine Tasse starker Filterkaffee bewirken kann.
      Sie überquerte die Brücke und bog nach links in die Church Street, wo sie auf die Schlange derer stieß, die zu den 199 Stufen wollten, die hinauf zu Caedmon's Cross, St. Mary's und der Abteiruine führten. Nach kurzem Weg entlang der schmalen Kopfsteinpflasterstraße, kurz vor dem Marktplatz, entdeckte sie das Café, das ihr schon vorher aufgefallen war, Monk's Haven nahe dem Black Horse Pub. Das Café wollte besonders altertümlich aussehen. Über dem Eingang hing wie an einem Pub ein bemaltes Schild mit gothischen Buchstaben, über den Lanzettfenstern mit den weiß gestrichenen Rahmen an der Frontseite hingen Töpfe mit hellroten Geranien.
      Martha bestellte eine Tasse schwarzen Kaffee und nahm Platz, um sich dem Kreuzworträtsel der Times zu widmen. Während sie über die Lösungen sinnierte, beobachtete sie das Kommen und Gehen der Leute hinter den Fenstern: Paare, die Kinderwagen schoben; Kleinkinder an den Händen ihrer Mütter; korpulente, alte Frauen mit grauen Haaren und zu engen Schuhen. Vor dem Musikladen gegenüber begann ein dürrer, junger Mann in Jeans und kariertem

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