Das stumme Lied
Gesicht und am Kopf geschlagen und hatten insgesamt einunddreißig Stichwunden. Es ist ein Wunder, dass keine Hauptarterie und kein lebenswichtiges Organ getroffen wurde.«
Kirsten packte die Bettdecke und zog sie um ihren Hals. »Was wurde denn getroffen, abgesehen von meinen Titten?«
»Kirsten!«, empörte sich ihre Mutter und schnappte nach Luft. »Es gibt keinen Grund, so vor dem Doktor zu reden.«
»Schon in Ordnung«, sagte der Doktor. »Ich schätze, sie hat jedes Recht, wütend zu sein.«
»Danke«, sagte Kirsten. »Vielen Dank. Was wollten Sie sagen?«
Der Doktor konzentrierte seinen Blick wieder auf die Wand. »Die meisten Einstiche befanden sich im Bereich des Unterleibs, der Oberschenkel und der Vagina«, fuhr er fort. »Es war ein brutaler Angriff, einer der schlimmsten, den ich je gesehen habe - jedenfalls bei einem Opfer, das überlebt hat. Außerdem gab es leichte Schnitte im Bauch und eine Art Kreuz mit einer langen Vertikalen von direkt unterhalb der Brüste bis zum Schambereich. Die Schnitte waren nicht tief, mussten aber trotzdem genäht werden. Deswegen fühlt sich Ihre Haut so straff an.«
Kirsten lag schweigend da und lockerte ihren Griff um die Bettdecke. Es war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Einunddreißig Stichwunden. Der schreckliche Schmerz zwischen ihren Beinen. Sie schluckte und kämpfte gegen die Tränen an. Auf keinen Fall wollte sie ihnen Recht geben und wie ein Baby reagieren. »Wenn ich nicht sterben werde«, sagte sie, »warum seht ihr dann alle drein wie bei einer Beerdigung? Was verbergt ihr noch vor mir? Vor was versucht ihr mich alle zu bewahren? Bin ich für mein Leben entstellt? Ist es das?«
»Ein paar Entstellungen werden bleiben, ja«, sagte der Arzt und schaute wieder Kirstens Vater nach Zustimmung suchend an. »Vor allem im Brust- und im Schambereich. Aber das sind nicht die Hauptschädigungen. Es gibt immer die Möglichkeit weiterer Operationen, um einige der Entstellungen zu korrigieren. Die wirklichen Probleme betreffen die inneren Organe, Kirsten«, sagte er und benutzte zum ersten Mal ihren Vornamen, wobei er ihn betont sanft aussprach. »Als Sie eingeliefert wurden, waren Sie bewusstlos. Wir mussten sofort operieren, um Ihr Leben zu retten, und wir mussten uns beeilen, weil es immer beträchtliche anästhetische Risiken gibt, wenn ein Patient bewusstlos ist.«
»Und?«
»Sie litten unter schweren inneren Blutungen und es bestand die Gefahr einer Infektion, einer Peritonitis. Wir waren gezwungen, eine Nothysterektomie vorzunehmen.«
»Ich weiß, was das bedeutet«, sagte Kirsten. »Es bedeutet, dass ich keine Kinder kriegen kann, richtig?«
»Es bedeutet eine operative Entfernung der Gebärmutter.«
»Aber das heißt, ich werde nie Babys kriegen können, oder?«
Der Arzt nickte.
Kirstens Mutter begann, in ein Taschentuch zu schluchzen. Ihr Vater und der Doktor machten eine ernste Miene. Eine Maschine neben ihr piepte rhythmisch, eine andere fauchte und vom Tropf lief eine farblose Flüssigkeit in ihren Arm. Abgesehen vom anthrazitfarbenen Anzug ihres Vaters schien alles im Zimmer weiß zu sein.
»Das hatte ich in der nahen Zukunft ohnehin nicht eingeplant«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln, womit sie den anderen zeigen wollte, wie tapfer sie war. Aber dieses Mal konnte sie die Tränen nicht aufhalten. Ihr Vater und der Doktor starrten auf sie herab.
»Warum seht ihr mich so an?«, schrie sie und drehte ihr Gesicht zur Wand. »Geht weg! Lasst mich allein!«
»Sie haben darauf bestanden, dass ich Ihnen alles sage, Kirsten«, sagte der Doktor, »und irgendwann hätten Sie es erfahren müssen. Wie gesagt, ich hielt es für zu früh.«
»Ich komme schon damit klar.« Kirsten nahm ein Kleenex. »Was für eine Reaktion erwarten Sie von mir? Soll ich Luftsprünge machen vor Freude? Gibt es sonst noch etwas? Wo Sie schon mal angefangen haben, können Sie auch gleich alles hinter sich bringen.«
Nach einer kurzen Pause sagte der Doktor: »Einige der Stichwunden haben Ihre Vagina perforiert.«
Ihre Mutter wandte sich zur Tür ab. Diese offenen Worte waren eindeutig zu viel für sie. Vaginas, Busen, Penisse und alles, was damit zusammenhing, waren in ihrem Haus stets Tabuthemen gewesen.
»Ach?«, sagte Kirsten. »Ich nehme an, das haben Sie auch wieder zusammengeflickt.«
Der Doktor nickte. »Ja. Wir mussten die Fleischwunden schließen und die Blutung
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