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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Sache trieb sie an, und ehe diese nicht erledigt war, konnte sie es sich nicht leisten, über das Leben nachzugrübeln. Für wen hielt sie sich denn auch, dass sie sich solche Urteile anmaßte?
      Sie schlug ihre Beine übereinander und nahm das Buch von Jane Austen. Es war ein heißer Tag am Strand, und sie lag da in Jeans und Bluse, die bis oben hin zugeknöpft war. Obwohl ihr zu warm war, konnte sie ihre Sachen nicht ausziehen und sich halb nackt präsentieren wie die Mädchen in ihren Bikinis. Zudem lagen die Rituale und die Erfüllung des Werbens hinter ihr. Sie musste fromm nach einer anderen Erfüllung suchen, dachte sie. Und die würde sie finden. Heute Nacht.
     
     

* 16
    Kirsten
     
    Wie die meisten Menschen, die schlechte Nachrichten erhalten, durchlebte auch Kirsten alle typischen Stadien, einschließlich des Glaubens, dass eine zweite Meinung den Doktor Lügen strafen würde und alles, was nach seiner Aussage für immer verschwunden war, wundersamerweise wiederhergestellt werden könnte. In der ersten Nacht sagte sie sich, dass alles ein schlechter Traum war. Aber es war kein Traum. Selbst im milden Licht des nächsten Morgens war alles wie zuvor: ihre Nähte, ihre Schmerzen, ihre Wunden, ihre Verluste.
      Die Alpträume vom schmerzlosen, beinahe blutlosen Stechen und Schlitzen hielten an. Sie erwachte nie schreiend, aber manchmal öffnete sie plötzlich ihre Augen zu irgendeiner unchristlichen Zeit, um den erbarmungslosen Bildern zu entkommen und sich über sie den Kopf zu zerbrechen.
      Dann wieder lag sie die ganze Nacht wach. Besonders wenn es regnete. Sie versuchte dann, ihren Kopf frei zu machen und sich vorzustellen, dass ihr hartes Krankenhausbett in Wirklichkeit eine Matte aus Kiefernnadeln tief im Wald hinter dem Haus ihrer Eltern in Brierley Coombe war. Der Regen tropfte leise auf das Laub vor ihrem Fenster, und für kurze Phasen vermochte sie sich vorzustellen, wie er sanft und kühl auf ihre Augenlider fiel. In diesen Momenten gelang es ihr beinahe, ihrem furchtbaren Zustand zu entfliehen.
      Immerhin war sie nicht tot. Auf eine Art hatte der Doktor Recht: Sie hatte Glück gehabt. Wenn der Mann nicht so spät seinen Hund Gassi geführt hätte und nicht neugierig geworden wäre, als er im Gebüsch ein Stöhnen und Rascheln hörte, wäre sie in einer Sommernacht im Park verblutet, nur wenige hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt. Doch der Mann war stehen geblieben und dafür sollte sie dankbar sein.
      Nun war sie ein Krüppel, obwohl all ihre Gliedmaßen intakt waren - zumindest die äußeren. Manchmal war ihr Gefühl der Verletzung und des Verlustes fast unerträglich; der intimste Teil von ihr war zerstört und gestohlen worden. Sie weinte, betete und verfiel einmal sogar in einen hysterischen Lachanfall. Und als sie die Wahrheit schließlich akzeptierte, bekam sie Depressionen. In ihrem Zentrum war diese dichte Wolke, eine undurchsichtige Masse, die wie ein Tumor in ihrem Kopf anschwoll, alles Licht zurückwarf und sie mit ihrer Dunkelheit und Schwere peinigte.
      Der Doktor und die Schwestern pflegten so gut sie konnten ihren heilenden Körper. Die Fäden wurden gezogen, das Fleisch blieb wulstig zurück und warfsich um ihre Brüste auf. Dunkle Narben in der Form eines Kreuzes mit einem langen vertikalen Balken und einem kurzen horizontalen führten, genau wie der Doktor gesagt hatte, von unterhalb ihrer Brüste bis zum Schamhaar - jedenfalls bis dahin, wo das Haar gewesen war, denn die Schwester hatte es abrasiert und juckende Stoppeln zurückgelassen. Äußerlich sah ihr Schambereich nicht besonders schlimm aus. Sie warf zum ersten Mal einen Blick darauf, als sie allein auf Toilette gehen konnte. Er war rot und wund, bedeckt mit einem Gitter verblassender Nähte, aber sie hatte mit Schlimmerem gerechnet. Die meisten Schäden waren innerlich angerichtet worden.
      Ihre Eltern kamen regelmäßig zu Besuch, ihre Mutter war immer noch zu mitgenommen, um viel zu sagen, und ihr Vater trug die Last auf seine typische stoische Art.
      Superintendent Elswick schaute wieder vorbei, aber es war zwecklos. Sie konnte sich immer noch nicht erinnern, was geschehen war, und außer dass sie die schwieligen Hände gespürt hatte, konnte sie der Polizei auch keine weiteren Informationen über ihren Angreifer geben.
      Auch Sarah besuchte sie erneut. Sie sagte, sie würde die kleine Wohnung übernehmen, falls Kirsten zur Genesung nach Hause gehen wollte. Kirsten war einverstanden.

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