Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
Vom Netzwerk:
Hemd, der aussah, als hätte er seit einem Monat nicht geschlafen oder sich seit mindestens der gleichen Zeit nicht gekämmt, mit nasaler Stimme Folksongs zu singen. Manche Leute warfen Münzen in den Hut, der neben ihm auf dem Gehweg lag.
      Nachdem sie das Kreuzworträtsel so weit gelöst hatte, wie es ihr möglich war, blätterte Martha durch die Zeitung, fand jedoch nichts Interessantes. Warten war keine Freude. So wird es Soldaten ergehen, dachte sie, kurz bevor ihr Einsatz beginnt. Sie sitzen in den Schützengräben oder auf Landungsbooten, rauchen und verhalten sich ruhig. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn alles vorbei war. Diesen Aspekt der Sache hatte sie völlig dem Zufall überlassen. Da sie nicht wusste, wie sie sich fühlen würde, wenn es geschehen war, konnte sie die Zeit danach nicht planen. Sie hoffte nur, dass sich von allein Möglichkeiten anboten, wenn es erst so weit war.
      Sie schlenderte die Church Street auf und ab und betrachtete die Gagatartikel in den Schaufenstern, wunderschön polierte und in Gold oder Silber eingefasste schwarze Steine oder größere Stücke, aus denen verzierte Schachfiguren oder zarte Skulpturen geschliffen worden waren. Zur Mittagszeit war sie wieder hungrig. So viel zur sättigenden Wirkung von Black Pudding und Speck. Auf der Suche nach einer Alternative zu Fish and Chips ging sie ins Black Horse und bestellte ein Steak mit Nierenpastete, was sie mit einem halben Pint Bitter herunterspülte. Danach rauchte sie eine Zigarette und versuchte sich eine Weile erneut am Kreuzworträtsel. Gegen halb zwei war sie wieder auf der Straße und fragte sich, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Sie wollte nicht schon wieder zu St. Mary's hinaufgehen, und den ganzen Tag durch die Straßen zu streifen, ergab ebenfalls keinen Sinn.
      Nahe der Kreuzung von Church Street und Bridge Street gab es einen kleinen Buchladen. Die Glocke leutete, als Martha eintrat. Hinter dem mit Rechnungen und Bestellungen überhäuften Tresen lächelte sie ein pummeliges, bebrilltes Mädchen an. Der Laden hatte eine große und umfassende Abteilung für Taschenbuchromane, die Martha systematisch durchforstete, beginnend mit A: Ackroyd, Amis, Austen, Burgess, Chatwin, Dickens, Drabble, Greene, Hardy ...
      »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Verkäuferin, kam hinter ihrem Tresen hervor und hob ihre Brille.
      »Nein«, sagte Martha und bedachte sie mit einem kurzen Lächeln. »Ich schaue mich nur um. Ich werde schon etwas finden.«
      Die Frau widmete sich wieder ihrem Papierkram und Martha fuhr fort, die Titel durchzugehen. Sie suchte nach einer geordneten Welt, in der sie sich eine Weile verlieren konnte. Etwas Modernes kam nicht in Frage; die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren stilistischen Experimenten, ihrem gewollten Kunstanspruch und ihrem Mangel an Moral und Ordnung hatte sie nie besonders interessiert. Eine gewisse Zeit lang hatte sie sich gelegentlich in einen Krimi geflüchtet - Ruth Rendell, P.D. James -, doch diese Geschichten übten nun keinen Reiz mehr auf sie aus. Einen Moment zog sie Moby Dick in Erwägung. Sie hatte das Buch nie gelesen, und die Küste, besonders ein altes Walfangzentrum, wäre ein idealer Ort dafür. Doch als sie zu den Ms kam, bemerkte sie, dass keine Ausgabe vorrätig war. Das einzige vorhandene Buch von Melville war Pierre und dafür war sie nicht in der Stimmung. Schließlich entschied sie sich für Jane Austens Emma. Sie hatte es in der Schule für ihre Abiturprüfungen gelesen, doch das schien eine Ewigkeit her zu sein. Bei Jane Austen konnte man darauf vertrauen, dass nicht mehr die geordnete Oberfläche ankratzte als ein gelegentlicher gesellschaftlicher Fehltritt oder irregeleitete romantische Absichten.
      Was gab es also Besseres, als den Nachmittag am Strand zu verbringen und Emma zu lesen? Sie hoffte nur, dass Keith nicht dort war. Er hatte zwar gesagt, er wolle Weiterreisen, doch er könnte seine Meinung geändert haben.
      Sie ging zurück zur Brücke. Bei Ebbe war der Fluss Esk zu einem schmalen Kanal im Sand geschrumpft. Die Boote hingen in komischen Winkeln im Schlick. Als Martha die St. Ann's Staith entlangspazierte, musste sie an die vergangene, auf dem Foto dargestellte Zeit denken, in der das Geländer noch aus Holz bestanden hatte. Sie ging an den Spielhallen, den Meeresfrüchteständen und dem Dracula-Museum vorbei und stieg dann am Ende der Pier Road die Stufen zum Strand

Weitere Kostenlose Bücher