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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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hinab.
      Unter West Cliff verlief Whitby Sands, das Meer hatte die Felswand über die Jahrhunderte ausgehöhlt. Martha steckte ihren Kopf in eine dieser kleinen Höhlen. Sie führte nicht sehr tief, doch es war feucht und düster da drinnen, die Felswände waren glitschig und es stank nach Algen und toten, ausgetrockneten Weichtieren, die unter den Füßen knirschten. Sie erschauderte und wandte sich ab.
      Wie an einem solch herrlichen Tag nicht anders zu erwarten, war der Strand überfüllt. Martha fand jedoch eine freie Stelle, wo sie sich an den Fels lehnen und ihre Beine ausstrecken konnte. Im Wasser schrien und plantschten Kinder, die sich der Reihe nach tapfer den Wellen entgegenstellten und von ihnen umgeworfen wurden. Besorgte Eltern widmeten sich mit einem Auge ihrer Strickerei oder der Zeitung, während sie mit dem anderen auf die Kleinen achteten. Einige Kinder waren damit beschäftigt, kunstvolle Sandburgen mit Türmen, Zinnen, Gräben und Zugbrücken zu bauen.
      Es gab sogar Leute, die sich sonnten. Einige junge Mädchen lagen in knappen Bikinis flach auf Handtüchern ausgestreckt. Eine Gruppe Jungen in ungefähr dem gleichen Alter spielte in ihrer Nähe Cricket und schlug den Ball immer wieder in ihre Richtung, nur um eine Ausrede zu haben, sich an die Mädchen heranzumachen.
      Was Martha beobachtete, so wurde ihr bewusst, war eine andere Art von Leben, eine völlig andere Welt - oder eine, die sie einmal gekannt, aber verloren hatte. Wenn sie sich schon wie eine Besucherin aus dem Weltall vorkam, während sie Liebespaare Hand in Hand entlanggehen, Eltern ihre Babys in Kinderwagen schieben oder Kinder in der Gischt spielen sah, dann war dieses Gefühl noch deutlicher, wenn sie die komplizierten Rituale der Annäherung und Werbung dieser vor Hormonen platzenden Teenager beobachtete.
      Als der Cricketball bei den ersten Malen etwas Sand auf die nackten Bäuche der Mädchen warf, reagierten sie mit Beschimpfungen. Jeder, der ihnen zuschaute, musste denken, sie würden nicht gerne Sand in ihre Bauchnabel bekommen. Nach einer Weile ließen sie sich aber auf das Spiel ein. Sie nahmen den Ball, warfen ihn ins Meer oder rannten los und vergruben ihn im Sand, lachten und machten sich über die Jungs lustig. Nie zuvor war Martha aufgefallen, wie wichtig der Aspekt der Wiederholung und der Hartnäckigkeit im menschlichen Paarungsritual war.
      Es war, als würde man eine Tier- oder Insektenspezies beobachten, dachte Martha, legte Jane Austen beiseite und zündete sich eine Zigarette an. Ganz egal wie weit wir uns entwickelt zu haben scheinen, wir gehorchen immer noch den primitiven Mustern, die so tief in uns eingebrannt sind, dass wir sie selbst dann nicht erkennen, wenn wir auf der Straße über sie stolpern. Was häufig genug passiert. Obwohl wir über das Wunder der Sprache verfügen, artikulieren wir uns immer noch besser durch inhaltslose Töne, durch Gesten, Blicke und Schweigen.
      Und hinter all diesen ausgeklügelten Werberitualen, dachte Martha, lag ein rein animalisches Verlangen und der kaum bewusste Instinkt, die Art zu erhalten. Genau wie bei Keith gestern Abend. Er hatte Martha gewollt. Er hatte sie nackt in sein Bett führen wollen, um sie zu seinem Vergnügen zu nehmen. Und das alles für fünf Minuten Stöhnen - oder war es ein Quietschen? -, hatte einmal jemand gesagt. Dafür würde der Mensch alles tun: lügen, betrügen, stehlen, verstümmeln, töten, selbst sterben.
      An diesem Tag am Strand erschien Martha die gesamte menschliche Tragödie nur traurig und sinnlos. Die Menschen glichen Puppen, manipuliert von Kräften, die sie nicht verstanden oder, schlimmer, sogar erkannten. Shakespeare hatte, wie immer, Recht: »Was Fliegen sind den müßgen Knaben, das sind wir den Göttern: Sie töten uns zum Spaß.« Und Martha konnte sich dabei nicht ausschließen. Hatte sie nicht den »Spaß« der Götter erlebt? Und welche Wahl hatte sie denn in dieser Tragödie oder Farce, in der sie spielte? Genau wie jeder andere war sie eine Marionette. Sie wurde vielleicht von anderen Fäden gelenkt, von böseren Puppenspielern, doch die entzogen sich ebenso ihrer Kontrolle. Trotz der Hitze zitterte sie.
      Schließlich konnte sie diese düsteren Gedanken abschütteln. Sie sagte sich, dass sie lediglich nervös wurde und der schwache und feige Teil ihres Wesens versuchte, ihre Zuversicht zu untergraben. Sie musste stark sein. Es nützte nichts, sich der Sinnlosigkeit zu ergeben; nur eine

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