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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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sie und Galen sich in der Nacht nach der Weihnachtsfeier des Fachbereichs Englisch zu Beginn ihres zweiten Jahres das erste Mal auf dieser Matratze geliebt hatten. Während sie daran dachte und an all die anderen wundervollen Male, in denen sie miteinander geschlafen hatten, schmerzten ihre Lenden vor Verlangen und Verlust. Sie konnte ihn noch vor dem Krankenhaus winken sehen. Natürlich würde sie ihn nie wieder sehen. Es war besser so für ihn.
      Ihre Mutter war demonstrativ mit fest verschränkten Armen vor dem Fenster stehen geblieben. Ob sie nun der Anblick des Parks - der Ort des Verbrechens - am Ende der Straße faszinierte oder ob sie lediglich den Mercedes im Auge behielt, wusste Kirsten nicht. So oder so spürte sie die ablehnende Haltung ihrer Mutter gegenüber dem Zimmer. Mit gerümpfter Nase schien sie lediglich um Haaresbreite davon entfernt zu sein, mit einem Finger über die Wand zu fahren, um zu prüfen, wie schmutzig sie war. Wenn sie das tatsächlich tat, dachte Kirsten, würde sie hinauslaufen und nach den Dienstmädchen rufen.
      Ihre Eltern hatten ihr Zimmer vorher nie besucht, nicht einmal die Stadt. Die provisorische Einrichtung und die einfachen Lebensumstände mussten für ihr südliches Zartgefühl ein mindestens ebenso großer Schock sein wie damals für sie selbst. Doch nach zwei Jahren hatte sie sich daran gewöhnt. In ihrem Alter war sie auch mehr an Partys, Büchern, Filmen, Theaterstücken und Liebe interessiert als daran, in einer makellosen Villa zu wohnen. Anders als ihre Mutter war Kirsten nie eine besonders penible Hausfrau gewesen. Selbst ihr Zimmer im Elternhaus war immer unaufgeräumt gewesen. Solange sie Spaß hatte, waren Oberflächlichkeiten unwichtig. Sie spülte regelmäßig das Geschirr, wischte Staub und ging einmal die Woche in den Waschsalon, das war's. Außerdem waren diese Häuser so alt und baufällig, dass man, selbst wenn man es versuchte, nicht viel ausrichten konnte. Die Fluktuation war groß, es waren Übergangswohnungen und keine, in denen man sich auf Dauer häuslich einrichtete.
      Sarah kam mit der angeschlagenen Teekanne und drei Bechern zurück. Während Kirstens Vater seinen Tee gnädig ohne Zucker akzeptierte, blieb ihre Mutter wie eine Statue am Fenster stehen. Ihr Vater machte Small Talk mit Sarah, und Kirsten tat so, als würde sie das Zimmer nach Dingen absuchen, die sie angeblich brauchte. Sie nahm den kleinen Haufen Post - vor allem Werbung - vom Schreibtisch und schob ein paar Kleidungsstücke und eine willkürliche Auswahl Bücher in den alten Koffer aus dem Wandschrank. Dann setzte sie sich wieder hin, um ihren Tee auszutrinken, der mittlerweile kalt geworden war.
      »Mehr willst du nicht mitnehmen?«, fragte Sarah.
      »Im Moment nicht. Zu Hause habe ich genug - Klamotten und so weiter.«
      »Aber die Bücher ...?«
      »Würdest du sie für mich aufbewahren? Ich glaube, ich brauche Abstand von der Literatur.«
      Sarah warfeinen Blick auf die Regale, die immer noch zu drei Vierteln voll waren. »Es ist wohl an der Zeit, dass ich mal Shelley und Coleridge lese«, sagte sie lächelnd.
      »Obwohl ich mich auf einen Sommer mit Thomas Hardy und George Eliot eingestellt hatte. Und von dem Linguistik- und Phonetikkram habe ich auch keine Ahnung. Du weißt ja, ich habe das alles nie kapiert.«
      Kirsten zuckte mit den Achseln und zog ein Buch für sie hervor. »Das ist ein gutes. Der Prof, der es geschrieben hat, kann angeblich an deinem Dialekt erkennen, aus welchem Dorf du kommst. Man sagt, normalerweise liegt er mit einer Toleranz von ungefähr zehn Meilen richtig. So gut bin ich nie gewesen, aber ...«
      »Danke«, sagte Sarah. »Ich werd's mal versuchen.«
      Sie mussten alle spüren, dachte Kirsten, wie ihre Mutter sie mürrisch betrachtete und eine unbehagliche Stimmung verströmte. Unter anderen Umständen hätte sie wahrscheinlich wieder ihr übliches Gejammer vom Stapel gelassen: »Warum musstest du ein sauberes, anständiges Zuhause verlassen?« Selbst ihr Vater hätte sie daran erinnern können, wie er versucht hatte, sie davon zu überzeugen, auf eine Universität nahe der Heimat zu gehen, anstatt so weit weg zu ziehen. Aber sie hatte der Enge entfliehen müssen. Sie wusste, dass sie es zu Hause nicht ertragen hätte, während alle anderen Studenten zum ersten Mal ihr eigenes Leben führen konnten. Es wäre demütigend gewesen, wenn sie nach der Milton-Vorlesung rechtzeitig zum Tee zu Mummy und Daddy hätte

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