Das stumme Lied
- länger dauern. Noch schlimmer wäre, wenn er den Pub gemeinsam mit seinem Freund verlassen würde. Dennoch hatte Martha vor, ihm wenn möglich einfach zu folgen und herauszufinden, wo er wohnte. Selbst wenn er nicht allein aus dem Pub kam, musste er irgendwann nach Hause gehen.
Sie hatte die Absicht, am Geländer vor dem Pub zu lehnen, unweit des Kieferknochens auf dem Gipfel von West Cliff, und zu warten, bis er herauskam. Sie würde darauf achten, in welche Richtung er ging, und ihm folgen. Sie hatte in Erwägung gezogen, wieder in den Lucky Fisherman zu gehen, diesmal allein, doch damit würde sie nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Womöglich sprach er sie dann sogar an und versuchte, sie an-zubaggern, und dann würde sie jeder sehen. Das Risiko war zu groß und lohnte sich nicht.
Wenn sie um halb zehn dort ankam, war sie wahrscheinlich rechtzeitig. Vorher würde er kaum nach Hause gehen. Eher später als früher. So hatte sie Zeit für ein Schlückchen auf die Schnelle, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie ging in den erstbesten Pub, einem überfüllten Touristenlokal, und bestellte einen doppelten Whisky. Sie trank ihn langsam, damit er ihr nicht gleich zu Kopfe stieg. Auf keinen Fall durfte sie betrunken werden. Doch die pappige Pizza sollte eigentlich alles aufsaugen, was sich in der nächsten Stunde dazugesellte.
Um Viertel nach neun, als sie nicht mehr länger warten konnte, machte sie sich auf den Weg zum Lucky Fisherman. Mittlerweile war es dunkel und die abendliche Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Sie brauchte fünf Minuten, um ihren Warteplatz zu erreichen. Dort angelangt, lehnte sie sich gegen das Geländer und schaute zuerst zur St. Mary's Church, die genau gegenüber im rötlichen Licht erstrahlte, und dann nach links, hinaus aufs Meer hinter den scherengleichen Molen, wo alles dunkel war. Sie konnte die schmale, weiße Linie der Wellen auf den Sand brechen sehen.
Sie schaute auf ihre Uhr. Neun Uhr fünfunddreißig.
Es schien ewig zu dauern. Zeit für eine Zigarette. Außer einem gelegentlichen Liebespaar kam niemand vorbei. Arm in Arm hielten sie meistens einen Augenblick inne, blickten neben der Statue von Captain Cook hinaus aufs Meer, küssten sich vielleicht und verschwanden dann bei den weißen Hotels entlang der North Terrace um eine Ecke. Vom Hafen wehte ein strenger Fischgeruch herauf. Martha fiel ein, dass es Donnerstagabend war. Morgen würden die Fischerboote einlaufen.
Neun Uhr sechsundvierzig. Er war spät dran. Musste Probleme haben, die letzte Doppelzwanzig, oder was auch immer er noch brauchte, zu treffen. Sie stellte sich vor, wie er mit seinem leeren Glas an die Theke geht und sagt: »Das reicht für heute. Bis morgen, Bobby.« Ja, er würde dort sein! Er hatte es tatsächlich gesagt, erinnerte sie sich: »Bis morgen, Bobby.« Und Bobby würde sagen: »Nacht, Jack«, wie immer. Jeden Moment würde er aus dieser Tür herausspazieren. Martha atmete kaum noch; vor Aufregung und Furcht war ihre Brust wie zugeschnürt. Sie trat die Zigarette aus und schaute hinüber zum Pub.
Um zehn Uhr geschah es. Die Tür ging knarrend auf und ein Mann - ihr Mann - kam mit seinem dunklen Pullover und den weiten Hosen heraus. Sie blieb wie angewurzelt stehen, ihre Hände schienen am Geländer festgefroren zu sein. Sie musste versuchen, wie eine zufällig hier stehende Touristin auszusehen, die einfach den nächtlichen Ausblick bewundert: St. Mary's, die Abteiruine, die Lichtspiegelungen im Hafen. Eine leichte Brise zerzauste ihr Haar und fuhr ihr wie kalte Finger über die Wange.
Er ging in ihre Richtung, zur Cook-Statue. Sie drehte ihren Kopf, um ihn kommen zu sehen. Wie es passierte, wusste sie nicht genau. Vielleicht war es nur die plötzliche Bewegung gewesen, oder vielleicht hatte das Licht der Straßenlaterne ihr Gesicht erfasst, als sie sich umgedreht hatte. Doch er sah sie. Sie hätte schwören können, dass er lächelte und seine Augen mehr funkelten als sonst. Er kam zu ihr.
Sie spürte panische Angst, als wäre ihr Knochenmark zu Eis geworden. Er stellte sich neben sie und legte ebenfalls seine Hände auf das Geländer.
»Hallo«, sagte er mit dieser vertrauten, heiseren Stimme. »Wunderbare Nacht, nicht wahr?«
Martha bekam kaum Luft. Sie zitterte so sehr, dass sie sich ans Geländer klammern musste, um sich auf den Beinen zu halten. Doch sie musste es hinter sich bringen. Jetzt war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher