Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
Vom Netzwerk:
Veränderungen - dem Auseinanderbrechen der Großfamilien, dem Ersten Weltkrieg, der Depression, dem mangelnden Bedarf an Bediensteten - waren sie in die Hände örtlicher Geschäftsleute gefallen, die die ehemals riesigen Zimmer mit den hohen Decken, von denen einmal Kronleuchter hingen, in so viele kleine Wohnungen oder möblierte Zimmer wie möglich unterteilt und an die Studenten vermietet hatten.
      Kirsten hatte ein Dachzimmer in einer Sackgasse unweit des Parks bewohnt. Nachdem sie im ersten Jahr in einem lebhaften und lauten Studentenwohnheim unglücklich gewesen war, hatte sie sich dort in den letzten zwei Jahren wohl gefühlt. Als die drei aus dem eleganten, silbergrauen Wagen stiegen, merkte sie, wie die Leute in der Straße durch ihre Gardinen nach draußen schauten. Wahrscheinlich war es etwas Besonderes, dachte sie, wenn ein Mercedes in diesem Viertel parkte, wo das Kopfsteinpflaster noch durch die verschiedenen Asphaltschichten hervorlugte.
      Zerrissene Zeitungen, Verpackungen, leere Zigarettenschachteln und Zellophanpapier verschmutzten den Bürgersteig und die Rinnsteine; Unkraut und ungemähtes Gras überwucherte den Garten. Im Treppenhaus, das aussah, als wäre es seit einem Monat nicht gewischt worden, lagen auf einem wackeligen, alten Tisch ordentliche Stapel mit Post.
      Als Kirsten auf den Lichtschalter drückte, gingen in jeder Etage nackte Glühbirnen an, deren Licht Spinnweben in den Ecken und Simsen offenbarte. Die Wände waren vor vielen Jahren in einer Farbe gestrichen worden, die irgendwo zwischen Eierschalenblau und Anstaltsgrün lag, die hohen Decken waren braunrot - kackbraun, sagte Sarah immer. Im Licht der nackten Sechzig-Watt-Birnen sah alles noch schlimmer aus, als es war.
      Während sie die Treppen hinaufgingen, spürte Kirsten die Missbilligung ihrer Mutter. In der Eingangstür schien sie die Luft angehalten zu haben, aus Angst, sonst wieder einatmen zu müssen.
      Kirsten klopfte an ihre eigene Wohnungstür und kam sich idiotisch dabei vor. Sie hatte zwar noch einen Schlüssel, doch offiziell war es jetzt Sarahs Zimmer, so dass sie nicht einfach hereinplatzen konnte. Sie hoffte, dass Sarah keinen nackten Mann im Bett hatte.
      Die Tür öffnete sich. Erleichtert nahm Kirsten das leere Zimmer hinter Sarah wahr, die an diesem Tag nicht mal eines ihrer provozierenden T-Shirts trug. Stattdessen hatte sie weiße Hosen und ein weites, blaues Sweatshirt an, auf dem vorne UCLA stand.
      »Kirstie, mein Schatz!«, rief sie. Ihre zarten Porzellanzüge formten sich zu einem Lächeln, von dem jeder erwartet hätte, es brächte ihr Gesicht zum Zerspringen, und sie warf ihre Arme um Kirsten.
      Kirsten erwiderte die Umarmung und wich dann behutsam zurück. Sie reagierte nicht so schroff wie auf Galens Berührung, doch sie spürte, wie sie sich innerlich zurückzog und abkapselte.
      »Meine Mutter und mein Vater.« Sie trat zurück und stellte ihre Eltern vor, die auf der Türschwelle stehen geblieben waren.
      »Eine Tasse Tee?«, fragte Sarah.
      »Das wäre nett.« Kirsten schaute ihren Vater an, der nickte. Ihre Mutter schüttelte leicht den Kopf und schaute auf ihre Uhr. »Für mich nicht, vielen Dank. Wir müssen eigentlich bald los, wenn wir heute Abend zu Hause sein wollen.« Sie richtete diese Bemerkung an ihren Mann.
      »Ach, für eine Tasse Tee haben wir Zeit«, sagte er, lächelte Sarah an und setzte sich in den abgewetzten roten Armsessel. Es war Kirstens Lieblingsplatz gewesen, dort hatte sie oft gesessen, um zu lesen und sich Notizen für ihre Seminararbeiten zu machen.
      Das L-förmige Zimmer war gerade groß genug für vier Personen. Es enthielt nicht mehr als die zwei zueinander passenden Sessel vor dem Gasofen, eine Matratze auf dem Boden unter dem Fenster, einen kleinen Wandschrank für ihre Garderobe und einen Schreibtisch und Bücherregale vor der anderen Wand. Auf einem Regal standen ein tragbarer Kassettenrekorder und ein Kassettenständer. Sarah hatte gerade Bruce Springsteens »Nebraska« aufgelegt. Sie drehte die Lautstärke herunter, bevor sie in der Küchenzeile den Kessel aufsetzte. Die Küche war im kurzen Teil des Ls untergebracht und vom Rest des Zimmers mit einem dünnen, roten Vorhang abgetrennt.
      Kirsten setzte sich auf die Matratze, die immer auch als Sofa gedient hatte, wenn Gäste da gewesen waren. Sie schaute zum Poster an der Wand über den Kissen - ein Druck von van Goghs Sonnenblumen - und musste daran denken, wie

Weitere Kostenlose Bücher