Das stumme Lied
perfekter Tag auf dem englischen Land geworden: blauer Himmel, ein oder zwei vorbeiziehende weiße Schäfchenwolken, sanfte, grüne Hügel und malerische Dörfer. Die Sonne tauchte die verwitterten Kalksteincottages mit ihren Schindeldächern und Gärten voller Rosen in ein warmes Licht.
Sie fuhren geradewegs durch Stow-on-the-Wold, das mit Autos zugeparkt und von Touristen überlaufen war, und hielten schließlich nahe Bourton-on-the-Water zum Essen an einem kleinen Gasthof aus dem sechzehnten Jahrhundert. Dort, in ihrer natürlichen vornehmen Umgebung mit wohl polierter Messingware, schienen sich Kirstens Eltern zu entspannen. Kirsten stocherte in ihrer kalten Platte herum. Der Tropf und das Krankenhausessen schienen ihr den Appetit genommen zu haben.
Nach dem Essen machten sie einen Spaziergang durch die Stadt, gingen am Fluss entlang und begaben sich anschließend auf die letzte Etappe ihrer Reise.
Bei einer endlosen Mahler-Symphonie aus dem Radio döste Kirsten unruhig vor sich hin. Selbst am helllichten Tage wurde sie von ihren Träumen von dem dunklen und dem hellen Mann gequält, die ihren Körper mit Messern bearbeiteten. Dann, auf der langen, sich vom Berg nach Bath hinabwindenden Straße, spürte sie das erste brennende Stechen tief in ihren Lenden. Sie ignorierte es und schaute hinab auf die vertraute Stadt, deren heller Stein in der Sonne funkelte. Doch noch ehe sie die Pulteney Road erreichten, krümmte sie sich angesichts der stechenden Schmerzen zwischen ihren Beinen und musste auf dem Rücksitz des Wagens die Zähne zusammenbeißen.
* 19
Martha
»Ob ich mich an Sie erinnere?« Der Mann sah überrascht aus. Dann lächelte er und zeigte mit dem Daumen hinter sich zum Pub. »Sie waren gestern Abend mit Ihrem Freund im Fisherman. Daran erinnere ich mich.«
»Er ist nicht mein Freund«, sagte Martha. »Außerdem ist er weitergereist.«
Martha wusste nicht, ob sie wütend oder froh darüber sein sollte, dass er sich nicht an sie erinnerte. Das war natürlich eine Beleidigung, jedoch eine, die sie zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Sie zitterte nicht mehr und hatte sich insgesamt ein wenig beruhigt. Jetzt musste sie sich nur daran erinnern, wer er war, was er getan hatte, dann würde sie durch ihren Zorn und ihren Ekel den Mut finden, den sie benötigte. Schließlich war dies ihre Bestimmung, ihre Mission; es war der Grund, warum sie überlebt hatte, was viele andere nicht überlebt hatten.
Es fiel ihr noch immer schwer, ihn anzuschauen; als sie es trotzdem tat, sah sie im schwachen Schein der Straßenlaterne, dass er nicht so alt war, wie sie anfänglich gedacht hatte: Ende zwanzig vielleicht, höchstens Anfang dreißig. Er war nur wenige Zentimeter größer als sie, hatte zotteliges, dunkles Haar und einen starken Bartwuchs, der ihn ständig unrasiert aussehen ließ. Genau wie am vergangenen Abend trug er einen marineblauen Guernsey-Pullover und weite, dunkle Hosen aus einem schweren Material. Er sprach mit dem ausgeprägten Dialekt der Gegend. Die Stimme passte, da war sie sich sicher. Auch das Gesicht. Sie musste nun ihrem Glauben und Instinkt vertrauen; mit Logik allein erreichte kein Seher seinen Gral.
»Im Urlaub?«, fragte er, während er lässig neben ihr an dem Geländer lehnte.
»Kann man so sagen.« Martha schaute geradeaus, während sie sprach. Von Strahlern beleuchtet thronte über dem Wasser St. Mary's und schien hell wie polierter Sand. Im Hafen darunter tanzten die roten, blauen und bernsteinfarbenen Lichter wie Öllachen. Hinter sich hörte sie klackernde Schritte - eine Frau mit hochhackigen Schuhen - und weiter entfernt, unten in der Stadt, kam eine lärmende Gruppe Jugendlicher johlend aus einem Pub. Draußen am Meer platschte etwas ins Wasser.
»Die meisten Leute, die hier wohnen, haben nämlich keinen Blick für die Schönheit ihrer Umgebung«, fuhr der Mann fort. »Ich meine, wenn man es immer um sich hat, das Meer und so weiter, dann bleibt man kaum stehen und macht große Augen.«
»Sieht man mir das so an?«
Er lachte. »Ich bleibe selbst manchmal stehen und schaue hinaus aufs Meer. Weit draußen ist es völlig dunkel und man erkennt nur noch einen winzigen Lichtfleck, der sich in der Ferne bewegt. Ich frage mich oft, wie es wohl da draußen im Dunkeln auf einem Boot sein muss.«
»Sie sind kein Fischer?«
»Ich? Gott bewahre! Wie kommen Sie denn darauf? Ich habe zwar ein kleines Boot und fahre manchmal
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