Das stumme Lied
eilen müssen. Je weiter weg, desto besser, hatte sie gedacht, während sie gegenüber ihren Eltern überzeugende Argumente hinsichtlich der Qualität der Uni und des Rufs der Professoren vorgebracht hatte.
»Ich glaube, wir sollten jetzt wirklich fahren, Liebes«, sagte ihr Vater schließlich und schaute sich um, wo er seinen Becher abstellen konnte.
Kirsten stand auf, nahm ihm den Becher ab und trug ihn in die Küche. Auch sie wollte endlich los. Sie hatte genug von dieser Anspannung und diesem Getue. Wenn sie jeder für den Rest ihres Lebens behandeln würde, als wäre sie aus Glas, dann würde sie die Flucht ergreifen. Sie begann eine dunkle Ahnung davon zu bekommen, wie sich körperlich Behinderte fühlen mussten: Jeder begegnete ihnen verlegen, herablassend und mitleidig und versuchte angestrengt, sie nicht zu beleidigen und bloß nicht auf ihre Behinderung zu sprechen zu kommen. Sex und Babys würden daheim nun Tabuthemen sein, dachte sie, ebenso wie alle anderen schmutzigen Worte. »Sprich nicht über Du-weißt-schon-was«, würde ihre Mutter Gästen an der Tür zuflüstern, »sonst verletzt du unsere arme Kirsten.« Sie war müde. Sie wollte nur noch auf den Rücksitz des Wagens krabbeln und schnell und ruhig nach Hause chauffiert werden.
Sarah begleitete sie nach unten und umarmte Kirsten an der Tür noch einmal. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich kümmer mich um alles. Ach, was ich ganz vergessen habe: Was ist mit den Kassetten?«
»Schon in Ordnung, Sarah, behalte sie. Ich habe zu Hause so viel Musik, wie ich will.« Und das stimmte. In ihrem geräumigen Zimmer stand eine Luxusstereoanlage, die ihr Vater ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie war zu sperrig und wertvoll gewesen, um den Umzug in die Uni mitzumachen, und so hatte Kirsten mit einem tragbaren Gerät vorlieb genommen und die Anlage für die Ferien daheim gelassen.
Sarah sagte, dass sie bald schreiben und, wenn sie konnte, zu Besuch kommen würde, dann brachen sie auf. In jedem Fenster wackelten die Gardinen. Vielleicht, dachte Kirsten, lag es weniger an dem noblen Wagen als an ihrer neuen Berühmtheit. »Da ist das Mädchen, das dem Verrückten in die Arme gelaufen ist und fast umgebracht worden wäre«, würden die Leute sagen. Die Worte hatten einen seltsamen Beigeschmack für sie: »In die Arme gelaufen.« Als wäre sie an dem, was geschehen war, irgendwie selbst schuld.
Ihre Mutter war sichtlich erleichtert, das Zimmer verlassen zu haben und zurück im angenehmeren und passenderen Innern des Mercedes zu sitzen. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass die beiden während ihres gesamten Krankenhausaufenthaltes in einem großen Hotel am Bahnhof gewohnt hatten. Kirsten wusste, dass ärmere oder weniger mächtige Leute weder die Zeit gehabt hätten, sich von der Arbeit freizunehmen, noch sich diesen Luxus hätten leisten können. Sie hatte den Wohlstand und die Stellung ihrer Familie wie alle Kinder aus diesem Milieu immer als selbstverständlich hingenommen. Nun war sie sich zum ersten Mal des Privilegs bewusst: das Einzelzimmer im Krankenhaus; das Elternhaus, eine renovierte Tudorvilla in Brierley Coombe nahe Bath, und der komfortable Mercedes, der auf der M1 eben dorthin rollte.
Durch den Nieselregen sah sie die trostlose Landschaft South Yorkshires vorbeiziehen, die Schlackenhalden und die reglosen Räder der Grubenschächte, bald darauf passierten sie die Ausfahrten nach Nottingham und Derby. Kirstens Vater war ein eingefleischter Autobahnfahrer; selbst wenn es einen Umweg bedeutete, blieb er auf der Autobahn und fuhr so schnell, wie erlaubt war. Als er jedoch bei Northampton die M1 verließ, kurz bevor sie in südöstliche Richtung nach London führte, merkte sie, dass er diesmal eine landschaftlich schöne Strecke wählte. Vielleicht dachte er, dass eine Dosis grüner und angenehmer Landschaft therapeutisch wirken könnte. Und wie um diese Vermutung zu untermauern, ließ der Regen nach und die Sonne brach hervor, noch ehe sie die südlichen Midlands umfahren hatten.
Kirsten saß bequem auf dem Rücksitz. Der Mercedes schien in der Luft zu schweben und gab kein Geräusch von sich, und nach ein paar Versuchen, sich zu unterhalten, waren auch ihre Eltern verstummt. Ihr Vater schaltete Radio Three ein und Kirsten entspannte sich bei der Klaviermusik von Busoni. Sie fuhren durch Banbury und Chipping Norton und gelangten bald in die Cots-wolds. Mittlerweile war es tatsächlich ein
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