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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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drehte sich zu ihm um.
      »Hallo«, sagte sie in der Hoffnung, dass ihre Stimme nicht zu sehr zitterte. »Erinnern Sie sich noch an mich?«
     
     

* 18
    Kirsten
     
    Der Doktor bestand darauf, dass Kirsten das Krankenhaus im Rollstuhl verließ, obwohl sie inzwischen schon sehr gut ohne Hilfe gehen konnte. Es wurde noch lächerlicher, als sie sich vor den Stufen des Einganges aus dem Stuhl erheben und hinuntergehen musste.
      Der Mercedes ihres Vaters stand direkt vor dem Eingang. Während Galen vorausging und ihre Sachen trug, hatten ihre Eltern Kirsten in die Mitte genommen.
      Galen, der Wort gehalten und sie in dieser Woche fast jeden Tag besucht hatte, gab am Wagen ihrem Vater die Hand, verabschiedete sich von ihrer Mutter, die majestätisch den Kopf neigte, und küsste Kirsten auf die Wange. Auch wenn sie ihm noch immer nicht das volle Ausmaß ihrer Verletzungen mitgeteilt hatte, war ihr aufgefallen, dass er gelernt hatte, körperlich nicht zu viel von ihr zu verlangen.
      »Kann ich dich wirklich nicht irgendwohin mitnehmen?«, fragte ihr Vater ihn.
      »Nein danke«, sagte Galen. »Bis zum Bahnhof ist es zu Fuß nicht weit und er liegt nicht auf Ihrem Weg.«
      »Hinten oder vorne?«, fragte ihr Vater Kirsten.
      »Hinten, bitte.«
      Im geräumigen Fond des Wagens konnte sie sich ausstrecken, ihren Kopf mit einem Kissen dazwischen ans Fenster lehnen, eine Decke über die Knie legen und die Welt vorbeiziehen sehen.
      »Du willst wirklich, dass ich schon allein gehe?«, fragte Galen durch das geöffnete Fenster.
      Kirsten nickte. »Sei vernünftig, Galen. Verpass nicht den Semesteranfang. Sonst hat es doch gar keinen Sinn.«
      »Und ich kann dich nicht überreden, mit mir zu kommen?«
      »Nein, noch nicht. Wie gesagt, mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme klar.«
      »Und du kommst bald nach?«
      »Ja.«
      Sie hatte es schließlich geschafft, ihn davon zu überzeugen, nach Toronto zu gehen, indem sie zum einen behauptet hatte, dass es ihr gut ginge und sie lediglich Ruhe brauchte, und zum anderen versprach, nachzukommen, sobald sie sich dazu in der Lage fühlte. Als er schließlich zustimmte, war sie sich nicht sicher, ob es an der Logik ihrer Argumente lag oder daran, dass sie ihm eine bequeme Fluchtmöglichkeit geboten hatte. Von Tag zu Tag hatte er sich etwas eigentümlicher verhalten - distanzierter, verlegener - und allmählich begann Kirsten zu glauben, dass an Sarahs Einschätzung, männliche Freunde werden »seltsam«, wenn Frauen Opfer sexueller Gewalttaten geworden sind, etwas dran war. Auch Hugo und Damon hatten zwar weiter Blumen geschickt und über Sarah Grüße ausrichten lassen, waren aber nie wieder vorbeigekommen. Kirsten fing langsam an, sich wie eine Aussätzige zu fühlen. Auf eine Art passte ihr das, denn im Moment wollte sie vor allem in Ruhe gelassen werden.
      Galen streckte seinen Arm durchs Fenster und tätschelte Kirstens Hand. »Mach's gut«, sagte er. »Und denk dran, ich will, dass du dich schnell erholst.« Kirsten lächelte ihn an, dann fuhr der Wagen los. Sie sah ihn winken, als der Mercedes zur Straße fuhr, und nachdem sie um die Ecke gebogen waren, verschwand er aus ihrem Blickfeld.
      Ihr Vater räusperte sich. »Ich nehme an, du möchtest erst mal in der Wohnung vorbeischauen und ein paar Sachen mitnehmen«, schlug er vor.
      Kirsten wollte eigentlich keinen Fuß mehr in ihre winzige Wohnung setzen, aber genauso wenig wollte sie, dass ihre Eltern dachten, sie hätte jeden Lebensmut verloren. Auch wenn einige ihrer tiefsten Gefühle taub waren und sie ihre Instinkte nicht unter Kontrolle hatte, konnte sie sich immer noch Mühe geben, sich so verhalten, wie man es von ihr erwartete. Sie wirkten schon entmutigt genug. Ihre Mutter hatte ihr bereits mehr oder weniger vorgeworfen, sich nicht genug »zusammenzureißen«, ihr Vater war einfach immer resignierter und distanzierter geworden. Wenn sie nun keinerlei Interesse an ihrer Habe signalisierte, würden sie sich nur noch mehr Sorgen machen. Also stimmte sie zu und beschrieb den Weg. Äußerlichkeiten waren ihren Eltern sehr wichtig.
      Ruhig dahingleitend entfernte sich der Wagen vom düsteren viktorianischen Krankenhaus und näherte sich dem Studentenviertel der Stadt: Straßenzüge mächtiger, alter Häuser, in denen einst ganze Großfamilien samt ihrer Dienerschaft gewohnt hatten. Rußgeschwärzt von zwei Jahrhunderten Industrie und geräumt nach einer Reihe von

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