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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Natürlich musste es eine Frau sein, dachte Kirsten; nach allem, was passiert war, hätte man sie nicht zu einem männlichen Psychiater geschickt. Aber eine so junge Frau hatte sie nicht erwartet. Dr. Henderson sah kaum älter als Kirsten aus, obwohl sie mit Sicherheit mindestens dreißig sein musste. Sie hatte kurze, schwarze und ordentlich geschnittene Haare, die nicht viel Aufhebens erforderten, ihre Gesichtszüge ergänzten und ihre hohen Wangenknochen betonten. Ihre dunkelblauen Augen blickten freundlich, funkelten jedoch verschmitzt. Ihre Stimme war leise, rau und tief und hatte einen leichten schottischen Akzent, ihre Lippen waren an den Mundwinkeln etwas nach oben gebogen, so als wäre sie immer kurz vor einem Lächeln. Sommersprossen bedeckten ihre kleine Nase und die faltenlose Haut über ihren Wangenknochen.
      Kirsten nahm auf dem Drehstuhl Platz. Nachdem sie sich nervös im Büro umgeschaut hatte, wandte sie sich an die Psychologin, die lächelte.
      »Nun, Kirsten, wie fühlen Sie sich?«
      »Ganz gut, würde ich sagen.«
      Dr. Henderson schlug eine Akte auf ihrem Schreibtisch auf und gab vor zu lesen. Kirsten hatte den Eindruck, dass sie den Inhalt bereits kannte und es nur des Effekts wegen tat. »Dr. Craven hat mir die gesamten medizinischen Details übermittelt, aber das ist nicht das, was mich interessiert. Warum erzählen Sie mir nicht mit Ihren Worten, was geschehen ist?« Dann lehnte sie sich zurück und faltete wieder ihre Hände. Die Federn in ihrem Stuhl quietschten bei jeder Bewegung.
      Kirsten spürte, wie ihr Mund trocken wurde. »Was meinen Sie damit? Welche Details?«
      Dr. Henderson zuckte mit den Achseln. »Vielleicht können Sie erst einmal mit dem Überfall beginnen.«
      »Ich bin nach Hause gegangen, jemand hat mich gepackt, dann wurde alles schwarz. Das war's.«
      »Mmmmh.« Die Psychologin begann mit einem Gummiband zu spielen und zog es zwischen ihren Fingern in die Länge, während sie genauso das Schweigen im Raum in die Länge zog. Kirsten rutschte auf ihrem Stuhl umher. Draußen ruderte ein junges Paar über den Avon. Kirsten konnte sie lachen hören, als sie mit ihren Rudern das Wasser aufspritzten.
      »Und?«, meinte Kirsten, als sie die Spannung nicht mehr ertragen konnte.
      Dr. Henderson machte große Augen. »Und was?«
      »Ich habe Ihnen gesagt, was passiert ist. Was denken Sie? Welchen Rat haben Sie für mich?«
      »Jetzt warten Sie mal einen Moment, Kirsten.« Dr. Henderson legte das Gummiband ab und sprach mit ruhiger Stimme. »Das ist nicht meine Aufgabe. Wenn Ihnen jemand Glauben gemacht hat, dass Sie von mir eine Art Zauberformel bekommen und alles im Handumdrehen zur Normalität zurückkehrt, dann hat man Sie gehörig in die Irre geführt.«
      »Und was ist dann Ihre Aufgabe?«
      »Betrachten wir es mal so: Sie sind hier, und das ist, was zählt. Sie sind hier, weil Sie Probleme haben, mit denen Sie allein nicht klarkommen. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, selbstverständlich, aber Sie sind diejenige, die die Arbeit machen muss. Ihre Beschreibung dessen, was geschehen ist, zum Beispiel - ein bisschen dürftig, oder?«
      »Was kann ich dazu? Ich meine, ich kann Ihnen nur das erzählen, an was ich mich erinnere.«
      »Wie fühlen Sie sich deswegen?«
      »Was glauben Sie, wie ich mich fühle?«
      »Erzählen Sie es mir. Ihre Beschreibung klang eigenartig leer und emotionslos.«
      Kirsten zuckte mit den Achseln. »Tja, so fühle ich mich wohl.«
      »Wie kommen Sie mit Ihren Eltern zurecht?«
      »Ich verstehe nicht, was das damit zu tun hat.«
      »Haben Sie ihnen von Ihren Gefühlen erzählt?«
      »Ich sagte doch gerade, ich weiß nicht, was das damit zu tun hat. Natürlich habe ich ihnen nichts erzählt. Glauben Sie, ich ...«
      »Was?«
      »Nichts.«
      »Kirsten, konnten Sie jemals mit Ihren Eltern über Ihre Gefühle sprechen?«
      »Natürlich.«
      »Wann?«
      »Was meinen Sie?«
      »Geben Sie mir ein Beispiel, was Sie mit ihnen besprochen haben.«
      »Ich ... ich ... also, so spontan fällt mir nichts ein. Sie bringen mich ganz durcheinander.«
      »Na schön.« Dr. Henderson setzte sich aufrecht. »Wollen wir mal in aller Ruhe an die Sache herangehen.« Und wieder lächelte sie. Kirsten merkte, wie sie sich fast gegen ihren Willen entspannte. Die Psychologin holte eine Zehnerpackung Embassy Regals aus ihrer Schreibtischschublade. »Was dagegen, wenn ich

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