Das stumme Lied
Nachrichten finden, doch über die neuesten Entwicklungen im Falle des Studentinnen-Schlitzers berichtete sie bestimmt auch. Und tatsächlich. Die Polizei bestätigte nüchtern, dass der Mord am Freitagabend die Tat des Mannes war, der im letzten Jahr schon fünf weitere junge Frauen auf die gleiche Weise ermordet hatte. Auf Einzelheiten des Verbrechens wollten sie nicht eingehen, doch dieses Mal gaben sie einen Namen bekannt. Susan fügte ihn zu den anderen fünf hinzu, die sie auswendig kannte, eine weitere Seele, die sie auf ihrem Weg leitete: Margaret Snell, Kathleen Shannon, Jane Pitcombe, Kim Waterford, Jill Sarsden und nun die sechste, Brenda Fawley.
Abgelenkt blätterte Sue den Rest der Zeitung durch und nahm kaum wahr, was sie las. Etwas später hatte sie einen Plan für den Tag. Es wurde Zeit, die Fischerdörfer in der Umgebung zu überprüfen. Zuerst ging sie zurück über die Brücke und holte sich einen Fahrplan vom Busbahnhof. Es dauerte eine Weile, bis sie daraus schlau wurde, letztlich entdeckte sie jedoch, dass am Sonntag keine Busse die Küste hinauffuhren. Nur weiter nördlich, zwischen Loftus und Middlesborough, verkehrten welche.
Sie überlegte, einen Wagen zu mieten, obwohl sie wusste, dass auch das am Sonntag schwierig war. Und selbst wenn sie einen bekommen sollte, ging es ihr durch den Kopf, würde es eine Menge Probleme aufwerfen: Durch Führerschein, Versicherung und die Zahlungsart läge ihre Identität offen. Das war genau die Spur, die sie nicht hinterlassen wollte.
Da es keine Zugverbindung an der Küste gab, blieb also nur ein Bus. Als sie sich die Verbindungen zwischen Scarborough und Whitby anschaute, entdeckte sie, dass es Busse nach Robin Hood's Bay gab. Sie fuhren stündlich um fünf vor halb ab und brauchten weniger als eine halbe Stunde. Auch die Rückfahrt war problemlos. Sie konnte um 17:19 oder 18:19 einen Bus bei Robin Hood's Bay Shelter nehmen, der dann die Hauptstraße hinauffuhr, oder sogar einen späteren, denn der letzte Bus fuhr um 23:19 Uhr. Also ging es nach Robin Hood's Bay.
Sue wusste nicht genau, was sie dort erwartete, doch der Ort musste überprüft werden. Sie war sich sicher, dass ihr Opfer aus Whitby kam und dass er etwas mit der Fischerei zu tun hatte, doch es war genauso gut möglich, dass er in der Stadt arbeitete und in einem der kleineren Orte in der Umgebung wohnte oder umgekehrt.
Außerdem hatte sie das Bedürfnis, Whitby eine Weile hinter sich zu lassen. Mittlerweile kannte sie die Stadt schon zu gut, und sie war es leid, tagein, tagaus durch die hiesigen Straßen zu streifen. Der Ort wurde allmählich erdrückend; er engte sie ein.
Zudem war das Frühstück bei den Cummings eine deprimierende Angelegenheit gewesen - die offensichtliche Armut, die schreienden Kinder, die mangelnde Sauberkeit (die Teetassen waren schmutzig und ihr Teller war nicht ordentlich abgespült worden und mit alten Eierflecken verkrustet gewesen). Dazu diese gehetzte Stimmung, die ihr noch jetzt Sodbrennen verursachte. Ja, ein weiterer Tagesausflug war eine sehr gute Idee.
Nachdem sie den Fahrplan noch einmal überprüft hatte, sah sie, dass sie den Bus um 10:25 Uhr verpasst hatte. Egal, dachte sie, während sie ihren Kaffee austrank, sie war nicht in Eile. Sie konnte die Zeitungen lesen, die Kreuzworträtsel lösen - es gab genug Beschäftigungen. Sie konnte sogar hinauf zur St. Mary's Church gehen und sich eine Weile in ihre Lieblingskabine setzen, wenn sie wollte.
* 30
Kirsten
»Kommen Sie herein, Kirsten. Setzen Sie sich. Machen Sie es sich bequem.«
Dr. Hendersons Praxis befand sich im zweiten Stock eines alten Hauses. Das Fenster, das ungefähr zwanzig Zentimeter geöffnet war, zeigte hinaus über den Fluss Avon zur mächtigen Abtei. Es war die letzte große, mittelalterliche Kirche, die in England gebaut worden war, und sie wurde immer noch benutzt.
Statt einer Couch wurde Kirsten ein gepolsterter Drehstuhl gegenüber der Psychologin angeboten, die mit ihrem Rücken zum Fenster hinter einem unaufgeräumten Schreibtisch saß. Zu Kirstens Rechten standen Aktenschränke, links mit Glastüren verschlossene Bücherregale, von denen viele mit Zeitschriften gefüllt waren. Von einem Regalbrett starrte sie ein vergilbter Totenkopf an. Er schien zu grinsen. Hinter ihr befand sich die Tür, daneben ein alter Hutständer.
Dr. Henderson lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und faltete die Hände auf ihrem Schoß.
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