Das stumme Lied
Leere zu ersetzen, die sie über allem spürte. Nicht die Angst hielt sie hinter verschlossenen Türen, in ihrem Bett, sondern allein die Apathie. Es gab nichts, das sie tun wollte, nicht das Geringste. Sie kam sich dumm und verachtet vor, das war alles. Mit ein wenig Glück konnte ihr der Psychiater vielleicht wirklich helfen. Vielleicht konnte er ihr etwas geben, für das es sich zu leben lohnte.
* 29
Susan
Die Möwen am unteren Hafen hatten in der Nacht genauso viel Lärm gemacht wie die auf West Cliff, das Frühstück bei Mrs Cummings war allerdings nicht mit dem in der ersten Pension zu vergleichen. Müsli und Frühstücksflocken gab es gar nicht und jeder Gast bekam nur ein kleines Glas ziemlich wässrigen Orangensaft. Zwischen Tee und Kaffee konnte man auch nicht wählen, man musste mit Tee vorlieb nehmen. Der Hauptgang bestand aus einem Spiegelei, dessen Eiweiß noch flüssig war, zwei dünnen Speckstreifen und einer Scheibe geröstetem Brot; es gab weder gegrillte Tomaten oder Pilze noch Black Pudding. Was aber zur Genüge vorhanden war, war kaltes Toastbrot und Marmelade.
Und die gesamte Mahlzeit schien im Schnelldurchlauf vonstatten zu gehen. Sue kam etwas zu spät nach unten, weil sie ihr Make-up auftragen und die Perücke richten musste. Kaum hatte sie Platz genommen, wurde ihr der Teller hingestellt. Der Tee hatte schon eine ganze Weile gezogen und schmeckte mittlerweile so bitter, dass sie zum Zucker greifen musste. Sie kam gar nicht dazu, den Orangensaft zu trinken.
Die einzigen anderen sichtbaren Gäste waren ein ungepflegt aussehender Junggeselle in einem grauen Pullover mit V-Ausschnitt, der sich weder rasiert noch gekämmt hatte, und zwei gelangweilte Teenagerinnen mit bunt gefärbten, abstehenden Haaren und einer Kriegsbemalung im Gesicht. Sue aß schnell auf, ging in ihr Zimmer, um eine Zigarette zu rauchen und ihre Tasche zu holen, und schlenderte dann hinaus.
Obwohl es erneut ein grauer Tag war, blendete das schwache, diffuse Licht. Solches Wetter verblüffte sie immer. Es war keine Sonne zu sehen, kein blauer Himmel, keine Spiegelung auf dem Wasser, und dennoch musste sie ihre Augen zusammenkneifen, damit sie nicht tränten. Sie zog in Erwägung, eine Sonnenbrille und vielleicht einen breitkrempigen Hut zu kaufen, entschied sich dann aber dagegen. Lieber nicht übertreiben; nachher sah sie noch aus wie jemand, der sich verkleidete.
Zuerst kaufte sie Zigaretten und Zeitungen beim nächsten Zeitungshändler, dann entdeckte sie ein anderes Cafe in der Church Street, in dem sie ihren morgendlichen Kaffee genießen konnte. In Kriminalromanen hatte sie von Leuten gelesen, die ihr Äußeres veränderten und doch gefasst wurden, weil sie so dumm waren, an ihren unflexiblen Routinen festzuhalten.
Als sie die Lokalzeitung anschaute, fiel ihr auf, dass es die Spätausgabe vom Samstag war, die sie noch nicht gelesen hatte. Natürlich! Heute war Sonntag, es gab keine Lokalzeitungen, sondern nur überregionale. Unter den letzten Meldungen am Ende der linken Spalte auf Seite eins entdeckte sie die Fortsetzung im Fall Grimley:
Die Polizei ist nicht überzeugt, dass der in der vergangenen Nacht am Strand von Sandsend angespülte Mann, der mittlerweile als Mr Jack Grimley identifiziert worden ist, eines natürlichen Todes gestorben ist. Detective Inspector Cromer teilte unserem Reporter mit, dass eine Obduktion angeordnet worden sei. Mr Grimley wurde zuletzt lebend gesehen, als er gegen 21:45 Uhr am Donnerstagabend einen Pub in Whitby verließ, den Lucky Fisherman. Jeder, der weiterführende Informationen hat, wird gebeten, sich so schnell wie möglich bei der örtlichen Polizei zu melden. Mr Grimley, 30, war selbstständiger Tischler und arbeitete zeitweise als Requisiteur beim Whitby Theater. Er lebte allein.
Sue kaute beim Lesen auf ihrer Lippe. Langsam, doch unaufhaltsam stolperten sie in Richtung Wahrheit, und die Polizei wusste generell immer mehr, als sie den Zeitungen erzählte. Sie fühlte ein Vakuum in der Magengrube, als würde sie über einem bodenlosen Abgrund hängen. Doch sie ermahnte sich, nicht in Panik zu geraten. Möglicherweise hatte sie nicht mehr so viel Zeit, wie sie gehofft hatte, besonders wenn sie gegen die Polizeiermittlung anrannte, dennoch musste sie Ruhe bewahren.
Sie zündete sich eine Zigarette an und widmete sich der Sunday Times. In dieser Zeitung würde man zwar keine unanständigen, sensationslüsternen und skandalösen
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