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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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reden, dann rufen Sie mich an. Jederzeit. Verstehen Sie?«
      Kirsten nickte.
      »Was ist mit den Träumen? Sie sagten, Sie hätten schlimme Träume über das Geschehene.«
      Kirsten erzählte ihr von der schwarzen und der weißen Gestalt, die sie in den wiederkehrenden Träumen aufschlitzten und auf sie einstachen.
      »Sprechen Sie von Albträumen?«, fragte Laura. »Wachen Sie schreiend auf?«
      »Nein, das nicht.«
      »Wie reagieren Sie dann?«
      »Im Grunde überhaupt nicht. Es ist alles ganz normal. Ein bisschen beängstigend, aber ohne Schmerz. Als wäre ich losgelöst davon und würde nur zuschauen.«
      »Was glauben Sie, warum Sie diesen Traum ständig haben?«
      »Keine Ahnung. Ich nehme an, es ist ein Ausdruck des Geschehenen. Aber ich sehe nichts, also kann es nicht real sein.«
      »Warum gibt es zwei Gestalten, eine schwarze und eine weiße?«
      »Sie tun beide das Gleiche.«
      »Ja, aber warum zwei?«
      »Keine Ahnung. Wie gesagt, es kann nichts damit zu tun haben, was geschehen ist. Ich sehe nichts.«
      Die Psychologin drückte ihre Zigarette aus und trank einen Schluck Kaffee. »Das Gedächtnis ist eigenartig«, sagte sie. »Es erinnert sich selbst dann, wenn man schläft oder bewusstlos ist. Wenn Ihre Augen geschlossen sind, können Sie zum Beispiel nichts sehen, aber Sie können hören und riechen. Manchmal tauchen solche Sinneseindrücke in Träumen auf. Und je nachdem, welche Gefühle Sie hatten und wie Sie sie wahrgenommen haben, werden sie von der Vorstellungskraft in Bilder umgesetzt. Ich bin keine Freudianerin, trotzdem glaube ich, dass Träume uns eine Menge erzählen können. Diese zwei Gestalten, die Sie schneiden, wer sind sie Ihrer Meinung nach?«
      »Ich nehme an, dass die eine - die schwarze - der Mann sein muss, der ... Sie wissen schon. Oder vielleicht sind sie es beide.«
      »Weiß und schwarz?«
      »Ja. Aber wenn das stimmt, was Sie sagen, und ich mich auch an Dinge erinnere, wenn ich bewusstlos bin, dann ist der Weiße vielleicht der Arzt. Er hat mich lange operiert und mich dabei wahrscheinlich genauso geschnitten. Weiß und schwarz. Gut und böse.« Sie war zufrieden mit sich, als hätte sie endlich einen besonders geheimen Code geknackt, doch Laura schien nicht beeindruckt zu sein.
      »Vielleicht«, sagte sie. »Und was ist Ihrer Meinung nach in dieser Wolke?«
      »Ich weiß es nicht. Alles.«
      »Alles?«
      »Was in dieser Nacht geschehen ist.«
      »Glauben Sie, dass Sie für einen Teil der Zeit bei Bewusstsein waren? Dass Sie den Mann gesehen und sich gewehrt und die Erinnerung daran verdrängt haben?«
      »Ich bin mir nicht sicher, aber es muss so gewesen sein, oder? Warum würde ich sonst das Gefühl haben, dass da etwas in mir ist, an das ich nicht rankomme?«
      »Möchten Sie herankommen?«
      Kirsten verschränkte ihre Arme und zog sich innerlich zurück. »Ich weiß es nicht.«
      »Es könnte notwendig sein. Wenn Sie Fortschritte machen wollen.«
      »Ich weiß es nicht.«
      Die Psychologin machte ein paar weitere Notizen in ihre Akte, schlug sie dann zu und legte sie in ein überquellendes Ablagefach - ob es das Fach für die Eingänge, die Ausgänge oder die noch anhängigen Fälle war, konnte Kirsten nicht erkennen. Sie nahm an, dass Laura Henderson kein so effizientes System hatte, um ihren Papierkram zu organisieren.
      »Gut«, sagte Laura. »Ich nehme an, das spielt im Moment keine Rolle. Werden Sie wiederkommen?«
      »Habe ich eine Wahl?«
      »Ja. Sie müssen aus freiem Willen kommen.«
      »In Ordnung.«
      »Schön.« Als Laura aufstand, fiel Kirsten auf, wie schlank und gesund sie aussah, selbst in dem weiten, weißen Kittel. Dadurch fühlte sie sich selbst unattraktiv. Im Krankenhaus hatte ihre Haut diese gelblich-graue Blässe angenommen, die Kranke bekommen, und das pampige Essen hatte ihrer Figur überhaupt nicht gut getan. Später, als sie ihren Appetit verloren hatte, hatte sie wieder abgenommen, und jetzt fühlte sich ihre Haut faltig und schwabbelig an. Zudem war ihr Gesicht pickelig, wie es nicht mehr gewesen war, seit sie vierzehn war, und selbst ihre Haare schienen leblos und spröde hinabzuhängen.
      Sie gingen zur Tür, die Laura für sie öffnete. »Und Kirsten«, sagte sie zum Schluss, »denken Sie daran: Es ist völlig in Ordnung, was Sie fühlen, selbst wenn es schlimme Dinge sind. Es ist in Ordnung, Hass und Wut demjenigen gegenüber zu empfinden,

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