Das stumme Lied
»Ich habe es nicht eilig«, fuhr er fort. »Vielleicht komme ich nie wieder hierher. Außerdem war das Wetter verdammt schön. Nach allem, was ich vorher gehört habe, ist das schon wieder einmalig für England. Bist du noch in Whitby?«
»Ja.«
»Immer noch in der gleichen Pension?«
»Ja.«
»Immer noch Black Pudding zum Frühstück?«
»Meistens.«
Sues Gedanken rasten. Zunächst einmal wollte sie mit ihm nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden und sie konnten sich kaum deutlicher präsentieren als hier an der Hafenmauer. Zum Glück war im Moment so gut wie niemand in der Nähe. Am Strand saßen ein paar Leute, doch die schauten aufs Meer, und nahe des Cod and Lobster standen zwei blonde Kinder, die wie Zwillinge mit weißen Shorts und blaurot gestreiften T-Shirts gekleidet waren und Eis aßen. Die anderen Leute waren entweder im Pub, in den Läden oder warteten im Restaurant auf ihr Essen. Zudem schreckte der steile Abstieg ins Dorf wahrscheinlich eine Menge älterer Besucher ab, dachte Sue. Egal wie warm es war, die Leute blieben am liebsten direkt vor dem Meer in ihren Wagen sitzen, und das konnten sie hier nicht. Es war zwar ziemlich leicht, hinab zum Strand zu kommen, der Weg zurück den Berg hinauf war für viele jedoch bestimmt ein zu hoher Preis für einen kurzen Ausflug an die Küste.
Bisher hatte noch niemand richtig Notiz von ihnen genommen. Als Erstes musste sie Keith irgendwo hinlotsen, wo nicht so viel los war, dann würde sie klar denken können. Ihr gefiel die Idee nicht, die sich formte, die sich ihr praktisch aufdrängte, doch bisher war ihr noch kein anderer Ausweg eingefallen.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte er.
»Tja«, sagte Sue, »ich wollte an der Küste entlang nach Runswick Bay gehen und dann dort den Bus nach Whit-by nehmen. Was meinst du? Ist es zu weit?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich bin die Strecke selbst gelaufen. Kein großes Ding. Weißt du was? Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mitkommen. In meiner Karte ist allerdings ein noch besserer Weg eingezeichnet. Man geht entlang der Klippen bis Port Mulgrave, dann durch einen Wald zurück landeinwärts und gelangt in einem Bogen auf die Hauptstraße. Auf der kommst du zu deiner Bushaltestelle und ich zurück nach Staithes. Was meinst du?«
»In Ordnung. Bist du sicher, dass du nichts anderes zu tun hast?«
»Wie gesagt, ich bin im Urlaub. Keine Pläne, keine Zeitungen, kein Fernsehen. Ferien von der Welt.«
Sue erinnerte sich, dass er schon bei ihrem letzten Treffen gesagt hatte, dass er keine Zeitungen las. Das gab ihr ein wenig Sicherheit - besonders da er auch Jack Grimleys Tod nicht erwähnt hatte. Doch es blieben immer noch zu viele Möglichkeiten, dass jemand wie Keith zufällig auf ein Verbrechen in der Gegend aufmerksam wurde: etwa durch ein Foto von Grimley und eine Bitte um Informationen, die in irgendeinem Pub oder Café entlang der Küste aushingen. Oder durch eine Zeitung, in der eines Abends sein Fish and Chips eingewickelt war. Vielleicht schaute gerade jemand im Aufenthaltsraum seiner Pension Lokalnachrichten im Fernsehen, während er hereinkam, um sich eine Tasse Tee zu machen. Und er würde sich erinnern, das war das Problem. Er hatte sie selbst in ihrer Verkleidung erkannt, also würde er mit Sicherheit Jack Grimley wiedererkennen, denn er hatte gesehen, wie sie den Mann im Lucky Fisherman angestarrt hatte. Je mehr sie sich ängstlich fragte, was Keith wusste, desto mehr merkte sie, dass sie sich ganz und gar nicht sicher fühlte. Warum war er nicht geradewegs nach Schottland gefahren oder hatte ein Flugzeug zurück nach Oz genommen?
Keith interpretierte ihr Schweigen als Zögern. »Hör zu, Martha«, sagte er, kratzte sein Ohrläppchen und schaute hinaus aufs Meer. »Ich weiß, dass ich etwas zu weit gegangen bin, damals, als ... du weißt schon ... und es tut mir Leid. Ich möchte, dass du weißt, dass es mir nicht nur um das eine geht. Ich fände es nur nett, einen Spaziergang mit dir zu machen. Ich werde nichts probieren. Ehrlich.«
Sue stand auf und wischte den Sand von ihrem langen Rock. Sie schmiedete einen Plan, und wenn er glaubte, sie überreden zu müssen, würde das ihren Absichten nur zugute kommen. »Schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich wollte nicht so schroff zu dir sein. Ich bin ja keine Nonne oder so. Es ging einfach zu schnell. Ich kannte dich ja kaum.« Sie lächelte ihn an.
Keith sah überrascht aus. »Ja,
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