Das Südsee-Virus
angelegten Straßen Havannas, die Hemingway einmal die Leben spendenden Flüsse der Einsamen genannt hatte. Vor dem Hotel »Parque Central« wurde ein roter Teppich ausgerollt. Ein Herr in livrierter Uniform ordnete an, wo die Blumenkübel hingestellt werden sollten. An der nächsten Ecke plötzlich zwei ineinander verkeilte Wagen. Er mischte sich unter die Schaulustigen, die den Unfall aufgeregt diskutierten. Er diskutierte sogar mit, er war dabei, er gehörte dazu, das tat gut. Polizist müsste man sein. Gehorchen, befehlen, an seinem Platz sein, seinen Platz kennen …
JANUA SUM PACIS – »Ich bin das Tor des Friedens« stand auf dem Haupteingang zum Friedhofsgelände. Der vierunddreißig Meter breite, aus weißem italienischen Marmor gefertigte Zugang mit den drei romanisch-byzantinischen Bögen flößte Respekt ein, keine Frage. Die drei Figuren, die den Ankommenden aus zweiundzwanzig Meter Höhe vom Sims der Portada Principal begrüßten, ließen Cording fast vor Ehrfurcht erstarren, schließlich symbolisierten sie die drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung. Alle drei besaß er nicht gerade im Überfluss.
Entsprechend vorsichtig betrat er das streng gegliederte Gelände, das für die Kubaner mehr war als eine Gedenk- und Beerdigungsstätte. Es war ein Pilgerort, ein Nationaldenkmal.
Er musste an die Worte Maevas denken, die sie Steve letzte Woche in die Kamera gesprochen hatte und die seitdem im Internet millionenfach abgefragt wurden: Der Mensch der Zukunft muss ein Liebender sein – oder er wird gar nicht mehr sein. Er war sicher, dass sie diesen Satz heute Nachmittag auf dem Platz der Revolution wiederholen würde, er war zu ihrem viel beachteten Credo geworden.
Auf der Bank rechts von ihm saß ein kleines Mädchen und ließ die Füße baumeln. Als er ihr zulächelte, schlug es die Augen nieder, um nicht gesehen zu werden. Sekunden später sprang es unversehens auf, wie ein Vogel, der von einem Zweig davonflattert. Eine Familie näherte sich, Mutter, Vater, drei Kinder. Der Vater bat ihn, einige Aufnahmen von ihnen zu machen, und drückte ihm eine antiquierte Digitalkamera in die Hand. Cording kam der Bitte gerne nach. Muchas gracias! De nada!
Er blickte auf die Uhr. Zeit zu gehen. Er würde sich irgendwo ein Plätzchen am Rande der Plaza suchen, einen, der ihm den Rückzug offenhielt, er konnte auf keinen Fall riskieren, von der wogenden Masse absorbiert zu werden. So weit ging seine frisch gewonnene Menschenliebe noch nicht. Er versuchte sich zu erheben, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Das kann doch nicht wahr sein!, fluchte er und drückte sich mit den Händen von der Bank. Okay … links, rechts, immer einen Schritt vor den anderen. Geht doch …
6. Januar 2029
Es ist mir immer noch ein Rätsel, warum mir meine Füße gestern weitgehend den Dienst versagten. Vielleicht führten sie nur aus, was mein Unterbewusstsein ihnen diktiert hatte. Vielleicht hat mich auf dem Cementerio zwischen all den Engeln ein heimlich ausgesandter Voodoofluch gestreift. Jedenfalls war es mir unmöglich, den Feierlichkeiten auf der Plaza de la Revolución beizuwohnen. Mit anderen Worten: Ich habe Kubas spektakulären Eintritt in die URP verpasst! Ich habe aber weder ein schlechtes Gewissen deswegen, noch quält mich der Gedanke, dass mir etwas Wesentliches entgangen sei. Zu erleben, wie eine Menschenmenge in geschickt geschürter Zuversicht ekstatisch zu einem Körper verschmilzt, wäre in Havanna sicher interessant gewesen – aber eigentlich passiert hier nichts anderes als zuvor schon in Dithmarschen, Bhutan oder anderswo. Menschen formulieren ihre Sehnsüchte von Zeit zu Zeit gerne neu. Und mit Maeva wird ihnen eine Figur gesandt, die an jedem Ort der Welt als Projektionsfläche dienen kann.
Allmählich wird mir dieses Theater unheimlich. Wir sind doch nur zu dritt. Wir reisen um die Welt. Ausgestattet mit einer Handkamera. Billiger geht es ja kaum. Und was ist das Ergebnis? Dass uns die ganze Welt dabei zusieht! Maevas Kreuzzug ist zu einem alternativen Medienspektakel geraten, wir befinden uns auf offener Bühne, und das Stück, nach dem die Weltöffentlichkeit süchtig geworden ist, besitzt alles, was ein Blockbuster braucht: Der Kampf zwischen Gut und Böse hat durch Maeva eine besondere, fast erotische Komponente bekommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann ihre Feinde handeln werden. Ich rechne mit allem, Mordanschläge inklusive. Mit jedem Tag, den wir unterwegs sind, wird meine
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