Das Südsee-Virus
einem Schauprozess im Orpheum Theatre beizuwohnen. Die Tribunale finden einmal pro Woche abwechselnd in Salem, Sacramento oder San Francisco statt. Angeklagt sind Verantwortungsträger der sogenannten »alten Welt« – Politiker, Wirtschaftsgrößen, Wissenschaftler, Finanzjongleure. Aber auch Journalisten und Leute aus der Werbebranche mussten sich bereits verantworten. Die Verhandlungen werden im Staatsfernsehen übertragen und sind äußerst beliebt.
Die eintausendvierhundert Besucher im Orpheum Theatre waren wie immer durch das Los bestimmt worden, wobei die Betroffenen nicht das Recht hatten, der Veranstaltung fernzubleiben. Cording, der von dieser Zwangsrekrutierung zuvor im Hotel erfahren hatte, war überrascht, wie aufgekratzt und erwartungsfroh sich die Leute gebärdeten, die an ihnen vorbei durch das Foyer in den Zuschauerraum drängten.
»Ich frage mich, wer von denen wohl zu Hause geblieben wäre, wenn sie selbst hätten entscheiden können«, bemerkte er.
»Niemand, mein Lieber«, antwortete Knowles, »kein Einziger. Panem et circenses. Moment mal! Das ist doch …«
Der Mann, dem er winkte, hatte ihn nun seinerseits erkannt und kam freudestrahlend zu ihnen herüber.
»Allan Prescott!«, rief Knowles hocherfreut und schüttelte dem Besagten lange und kräftig die Hand. »Darf ich vorstellen? Maximilian Cording, Steve Parker.«
»Tatsächlich?! Es ist mir ein Vergnügen, meine Herren. Sie machen einen großartigen Job. Ist Maeva heute Abend auch hier?«
»Nein«, erwiderte Knowles. »Aber erzähl: Was treibt dich denn so unversehens ins Paradies?«
»Das Informationsministerium von ECOCA hatte schon vor Monaten bei mir angefragt, ob ich in diesem Prozess als Sachverständiger aussagen würde. Hab lange hin und her überlegt. Schließlich habe ich mich gefragt: Was weißt du schon über diesen Staat? Wird ja viel kolportiert. Muss aber nicht alles stimmen. Immerhin haben sie hier die Reißleine gezogen, während sich der Rest der guten alten USA weiterhin im freien Fall befindet. Ich war neugierig. Darf ja nicht jeder einreisen. Eigentlich niemand, es sei denn, er wird von offizieller Stelle eingeladen. Wie ihr ja auch … Voilà, hier bin ich, frisch eingeflogen aus New York City!«
»Eingeflogen?!«
»Mit einer Sondermaschine des Ökorats, angetrieben mit kalt gepresstem Öl. Tut mir leid, Jungs, ich muss mich sputen. Auf den Zeugen der Anklage verwenden die Maskenbildner hier besonders viel Mühe …«
»Sehen wir uns nachher noch?«, fragte Knowles.
»Ich wohne im ›Fairmont‹ in der Mason Street. Kommt rüber, wenn ihr Lust habt. Ist nicht mehr ganz der strahlende Schuppen von einst, aber immerhin.«
»Der gute Allan als Zeuge in einem Schauprozess …«, murmelte Knowles. »Haben wir es nicht weit gebracht?«
Ein schrilles Klingelsignal forderte dazu auf, die Plätze einzunehmen. Knowles, Steve und Cording hatten die Ehrenloge im ersten Rang nahe der Bühne zugewiesen bekommen. Als sie eintraten, blickten die Leute im Parkett unisono zu ihnen auf. Das Orpheum war ein prächtiges Haus. In der Mitte des schweren, roten Samtvorhangs prangte ein golddurchwirktes Mandala, das zwei Dutzend Sonnenstrahlen züngelnd in alle Richtungen schoss. Der Vorhang kontrastierte mit der tiefblauen Decke, auf der Hunderte eingelassener Lämpchen unterschiedlich stark funkelten. Die Wände des Theaters erinnerten mit ihren barocken Schnitzereien und kunstvollen Intarsienarbeiten an einen spätmittelalterlichen Sakralbau. Als sich die pompösen Verzierungen nach einem letztmaligen Klingeln der einsetzenden Dunkelheit ergaben und die Sterne über ihnen verblassten, herrschte eine gespenstische Stille im Saal.
»Wer ist Allan Prescott eigentlich?«, fragte Cording an Knowles gewandt.
Die Antwort kam prompt und aus allen Richtungen: »Psssst …!«
Allan Prescott verfolgte die Verlesung der Anklageschrift in der Garderobe auf einem Monitor. Sie strotzte vor moralischen Vorwürfen und wurde immer wieder vom Beifall des Publikums unterbrochen. Prescott empfand Mitleid mit Charles Ball. Der Mann war weit in den Siebzigern, eine kümmerliche Gestalt, die in gebeugter Haltung auf einem Podest im Scheinwerferkegel hockte, wo sie den verbalen Attacken wehrlos ausgeliefert war. Der Staatsanwalt teilte mit, dass der Bruder des Angeklagten, David Ball, ebenfalls hätte anwesend sein sollen, aber es vorgezogen habe, sich gestern in der Haft selbst zu richten. Einige Theaterbesucher begannen zu klatschen, wurden
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