Das Südsee-Virus
ganzen Abend zwischen ihnen stehen, während sie sich in nie gekannter Manier über ihre persönlichen Befindlichkeiten austauschten. Die Unschuld war seit Sharks Tod raus aus dem Unternehmen, darin waren sie sich einig. Um Maeva mussten sie sich Sorgen machen, auch das war unbestritten zwischen ihnen. Nicht nur wegen weiterer möglicher Attentate, sondern vor allem wegen ihres »Sendungsbewusstseins«, wie Omai es genannt hatte. Maeva schien der Realpolitik immer mehr zu entrücken und ihre Aufgabe vor allem darin zu sehen, im Chaos des Untergangs Zuversicht zu säen. Eine beseelte Heilsbringerin, die sich mit allem und jedem anlegte. Oder, wie Cording es formulierte: eine moderne Jeanne d’Arc auf dem direkten Weg zum Scheiterhaufen.
»Ich hätte Lust, nach Tahiti zurückzukehren«, bemerkte er. »Ich meine, wohin soll diese Reise noch führen? Jetzt hat sie sich in den Kopf gesetzt, die Republik ECOCA zu besuchen. Ich kann den Ärger förmlich riechen, der da auf uns zukommt. Du weißt doch, was im ehemaligen Kalifornien los ist. Die fahren einen höllisch harten Kurs. Die haben die Bevölkerung praktisch in Geiselhaft genommen. Und jetzt stell dir Maeva vor, wie sie den Hardlinern dieses dubiosen Ökorats die Stirn bietet, denn ich schwöre dir: Genau das wird sie tun. Dieser Aufenthalt wird alles andere als angenehm. Im Übrigen glaubst du doch nicht im Ernst, dass wir dort auch nur eine Minute drehen dürfen! Also wozu das alles?«
Cording spürte, dass sich während seiner Rede eine Kluft in ihm auftat, er war selbst überrascht von dem barschen Tonfall, in den sich seine Worte kleideten. Es hätte dieses eisigen Schweigens von Steve gar nicht bedurft, um sich plötzlich wie ein Verräter vorzukommen.
»Keine Angst, mein Lieber«, sagte er und drehte das gut gefüllte Rumglas zwischen den Fingern, »ich geh euch schon nicht verloren …«
Warum hatte er den Eindruck, dass Steve diese Äußerung höchst unbefriedigt zur Kenntnis nahm? Etwas sehr Merkwürdiges schien passiert zu sein: Er hatte dem Jungen gegenüber seine Autorität verloren! Mrs. Parkers Sohn, der im Gegensatz zu ihm seit jeher ohne viele Worte auskam, hatte ihn soeben als Moralisten in den Schatten gestellt. Mit dem Mut und der Naivität seiner scheinbar unerschütterlichen Jugend. Cording konnte sich nicht erinnern, dass er sich je isolierter gefühlt hatte.
Cording hockte auf der Mauer am Malecón und blickte aufs Meer hinaus. Hinter ihm knatterten die Fahnen Kubas, Tahitis und der URP im Wind. Die bunte Dreifaltigkeit wurde einem heute in ganz Havanna um die Ohren gehauen. Der Hurrikan, der sich zweihundert Meilen entfernt langsam im Golf drehte, warf zur Feier des Tages eine Schleppe aus Wind und Regen vor Kubas Haustür, während er gleichzeitig den nördlichen Herbst ansog, sodass sich die Hitze der vergangenen Woche spürbar abkühlte.
Zwei Stunden vor der Großkundgebung auf der Plaza de la Revolución war der Malecón wie verwaist. Cording beobachtete die beiden Angler, die das Ufer ganz für sich allein hatten. Ein Mädchen näherte sich ihm von der Seite, sie war hübsch, mit einem klaren, herzförmigen Gesicht und kobaltblauen Augen, die ihn aus einer großen Tiefe anzublicken schienen. Aber diese Tiefe war leer. Sie bot ihm Sex. Für Dollar. Wie nannten die Kubaner einen Touristen wie ihn? Dollarschein auf zwei Beinen. Nein danke, Lady, sehr liebenswert. Sie gab sich schnell geschlagen und schlenderte auf der menschenleeren Promenade unter dem Flaggenwald einsam Richtung Westen, wobei sie sich lasziv in den Hüften wiegte. Sollte der Gringo doch sehen, was er verpasst hatte. Und er sah es. Sie war schön, aber es berührte ihn nicht. Sein Leben war freudlos geworden. Es kam ihm vor, als löse sich mit zunehmendem Alter alles auf, was ihm einmal eine Identität verliehen hatte. Als würde seine Seele im Gegenwind der Zeit von einer Folie befreit, auf der alle bisher gesammelten Eindrücke verzeichnet waren, die es ihm ermöglicht hatten, sich zurechtzufinden und sich Urteile anmaßen zu können. Das Koordinatensystem, in dem er so virtuos seiner moralischen Empörung gefrönt hatte, bröckelte in sich zusammen. Er war kaum noch in der Lage zu kommunizieren, seine Worte begannen sich auf das zu beschränken, was der Alltag ihnen an Banalitäten abverlangte. Er war ein Schweigender geworden, ohne Anspruch und ohne Ziel. Wieder ausgestattet mit der Naivität eines Kindes in einer Welt voller Wunder und Verrücktheiten. Er hatte
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