Das Südsee-Virus
sie sich ihre Zukunft auf Tahiti vor? Wäre sie im Falle ihrer Rückkehr bereit, der Weltöffentlichkeit zu erklären, dass ihr Verschwinden eine mit ihr abgestimmte Vorsichtsmaßnahme war? Würde sie wieder ins Amt der Präsidentin der Ökologischen Konföderation Polynesiens zurückkehren wollen? Und wenn ja, inwieweit würde sie dann ihren Einfluss geltend machen, um die Errichtung der Fischfarmen zu fördern, die sie den Inuit versprochen hatte?
Drei Wochen waren vergangen, ohne dass Maeva auch nur eine einzige politische Äußerung zu entreißen gewesen wäre. Sie wurde in der Welt als Ökoikone gehandelt, als couragierte Heilsbringerin, aber auf ihrem augenblicklichen »Regierungssitz« wollte sie davon nichts wissen. Die Vergangenheit der letzten zwölf Monate: ausgeblendet, nicht der Rede wert. Ihr passierte genau das, was den auserwählten zweihundert Arioi auch passierte, wenn sie lange genug in der Abgeschiedenheit gelebt hatten: Sie wurde bescheiden. Wo einem die Natur zum Frühstück süße Orangen, Birnen, Feigen und Passionsfrüchte reichte, wo schmackhafte Knollengewächse und »Mungos« wuchsen, deren Blüten man wie Bonbons lutschte, wo wilde Ziegen in den Bergen lebten, die den Speiseplan ebenso belebten wie Lachs, Langusten und Austern, dort relativierte sich aller Ehrgeiz. Auf Rapa gab es keine Grundstückseigentümer, weil die Insel allen Bewohnern gehörte. Und diejenigen unter ihnen, die hier dauerhaft lebten, waren allesamt gewiefte Fischer, Jäger und Landwirte. Diese Leute hatten wirklich keine Ahnung, was in der Welt vor sich ging, sie waren durch Unwissenheit geschützt, während sich die Arioi ja nur vorübergehend aus dem Informationsfluss nahmen. Es machte also Sinn, dass die hundert verbliebenen Insulaner so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben wollten und allesamt ans andere Ufer der Ahureibucht in das Dörfchen Area gezogen waren. Natürlich kam es zu Begegnungen, denn in Ahurei befanden sich Kirche, Schule und Krankenstation.
Obwohl Steve die Tage mit Maeva genoss, begann er sich Sorgen zu machen. Würde sie jemals hineinwachsen in die Rolle der braven Mitspielerin, die ihr Rauura und Omai in dem Entführungsdrama zugedacht hatten? Zweifel waren erlaubt. Eine solche »Dressur« würde nicht gelingen. Aber bedeutete dies nicht im Umkehrschluss, dass ein Ende der Verbannung nicht in Sicht war? Konnte es sein, dass man Maeva ihre Rückkehr nach Tahiti nur in Aussicht stellte, um die brisante Situation für eine Weile zu entschärfen, während von vornherein feststand, dass man sich der Aufmüpfigen für immer entledigen wollte? Ihm wurde schwindlig bei dem Gedanken.
»Rudolf und du, ihr werdet mich nach Tahiti zurückbringen, wenn ich so weit bin«, hatte sie eines Abends seelenruhig geantwortet, als er den Mut fand, seinen Befürchtungen Ausdruck zu verleihen. Und dabei hatte sie wieder diesen wissenden Blick gehabt, als hätte sie die ganze Geschichte schon einmal erlebt.
Sechs Wochen war Steve bereits auf Rapa. Immer noch begleitete er Maeva auf ihrem täglichen Ausflug hinauf nach Morongo Uta. Der Platz war ihm unheimlich geworden. Jedes Mal, wenn sie die historische Anlage betraten, hatte er das Gefühl, als werde ein Leichentuch über sie geworfen. Sie sprachen dort oben nicht miteinander, kein Wort. Und der Nachhall ihres Schweigens begleitete sie beim Abstieg bis vor Maevas Haus, wo er dann zum Abschied ein freundliches »Gute Nacht …« ins Ohr geflüstert bekam.
Eines Tages – die gezackten Bergrücken sahen aus, als würden sie im Morgenrot geröstet – antwortete sie nicht auf sein Klopfen. Er versuchte es erneut, wieder und wieder. Rudolf, der die Szene durchs Fenster beobachtet hatte, kam mit dem Nachschlüssel und öffnete die Tür. Maeva kauerte mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden und hielt sich einen Spiegel vors Gesicht, ganz nah, als wolle sie sich verstecken. Sie saß aufrecht und still, nur ihre Zehen krampften sich zusammen. Jetzt sah es Steve, und Rudolf bemerkte es ebenfalls: Ihre Füße steckten bis zu den Knöcheln in Flocken aus schwarzem Haar! Rudolf fand als Erster die Fassung wieder, er kniete vor sie hin und nahm ihr vorsichtig den Spiegel aus der Hand. Maeva ließ es geschehen, zeigte weiter keinerlei Regung. Sie blickte durch Rudolf hindurch, mit Augen, die überdimensioniert wirkten unter dem kahl geschorenen Schädel. Auf ihren Lippen lag ein breites, ausdrucksloses Lächeln. Es zuckte in den Mundwinkeln, als wollte es wieder
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