Das Südsee-Virus
eigentliche Gefahr drohte dem Damm aus dem bergigen Hinterland«, sagte Westerstede in Steves Kamera hinein, »ein mögliches Erdbeben, vor dem die Seismologen gewarnt hatten, ignorierten die Verantwortlichen, das tut die Atomindustrie auch, überall auf der Welt, das ist normal. Dabei war bekannt, dass das Gewicht der aufgestauten Wassermassen ein Erdbeben begünstigen würde. Wissen Sie, was die Antwort der Regierung war? Das Bauwerk ist erdbebensicher, jedenfalls bis zur Stärke 7. Dass es am Ende 7,4 auf der Richterskala wurden – so what, wer konnte das denn ahnen? Aber zurück zu dem, was man in Peking als die wahre Gefährdung angesehen hatte. Die zahllosen Zuflüsse des Jangtse führen Unmengen an Geröll und Sanden mit sich, die sich im Stausee als Sedimente ablagerten. Ursache dafür sind die Erosionen an den Berghängen, verursacht durch das in China so beliebte Clearcutting. Diese Gefahr war real, darauf musste man reagieren. Also plante die Regierung zwanzig weitere Staudämme am Oberlauf des Jangtse, nicht nur zur Stromerzeugung, sondern vor allem, um die Sedimentfrachten zurückzuhalten, bevor sie den Damm erreichen und das Kraftwerk außer Betrieb setzen konnten. Zwölf von diesen Dingern sind fertiggestellt worden, dann wackelte die Wand. Der Rest ist bekannt.«
Westerstede schüttelte den Kopf. »Irgendwann greift ein Fehler in den nächsten, bis überhaupt nichts mehr reparabel ist. Die Abbrüche, die Sie links und rechts sehen, sind auf den gewaltigen Wasserdruck des Stausees zurückzuführen, die Hänge wurden einfach unterspült. So kam es immer wieder zu Erdrutschen, die bis zu fünfzig Meter hohe Flutwellen produzierten. Wussten Sie, dass die Dammbauer bereits kurz nach Fertigstellung ihres Wunderwerks über neunzig Risse im Beton gezählt haben? Natürlich wussten Sie das nicht, so etwas war Staatsgeheimnis in China. Aber die vierundachtzig Terawattstunden Strom, die man sich vom Damm erhoffte, ließen keine Zweifel zu.«
»Wie viel sind vierundachtzig Terawattstunden?«, fragte Cording, um Maeva eine Pause zu gönnen.
»Das entspricht der Leistung von fünfzehn Atomkraftwerken«, antwortete Westerstede. Er blickte nach unten auf den geplatzten Jangtsekiang, der nicht mehr recht zu wissen schien, wohin er fließen sollte. Der Helikopter drehte bei und stob mit tief hängender Stirn flussaufwärts davon. Erst als sie die Ausläufer der völlig zerstörten Millionenstadt Yichang erreichten, meldete sich Westerstede wieder zu Wort: »Beim Bau des Damms wurde übrigens neben den Umweltschützern auch das Militär politisch ruhiggestellt. Das überrascht Sie, oder? Aber im Verständnis der Verantwortlichen machte das Sinn. Den Militärs war nämlich bewusst, dass sich der Damm im Falle eines kriegerischen Konfliktes als Angriffsziel geradezu aufdrängte. Na ja, dieses Problem hat man ja nun nicht mehr.« Er wandte sich an Maeva: »Ich denke, wir sollten jetzt besser umkehren. War ein bisschen viel, ich weiß …«
Als sie drei Stunden später auf dem Footballfeld der Universität Chongqing gelandet waren, nahm Dr. Markus Westerstede Cording beiseite. »Ist es möglich«, fragte er auf Deutsch, während sie zwischen Maeva und Steve über den Rasen schritten, »dass man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und dass man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot und einen Apfel isst?«
Cording schaute ihn verblüfft an.
»Rilke«, belehrte ihn Westerstede. »Was meinen Sie, wäre das eine Erklärung?«
»Sicher«, antwortete Cording, »die einzige …«
»Das meint Rilke auch.«
Sie lachten. Das hatten sie sich ihrer Meinung nach auch gründlich verdient.
Westerstede hatte sie zum Abschied zu einem kleinen Umtrunk in seine Büroräume gebeten. Als Cording mit etwas Verspätung eintraf, fand er neben dem Hausherrn, Maeva und Steve auch die Leiter aller anderen hier tätigen Hilfsorganisationen vor. Sie nahmen kaum Notiz von ihm, warum auch, die Vorführung, die ihnen Steve auf dem Videoscreen gab, war um ein Vielfaches spannender als seine Ankunft.
Cording nahm sich einen Stuhl und hockte sich in die Runde, die gebannt zur Kenntnis nahm, was Steve in den letzten Wochen unter dem Titel »Maevas Reise« ins Netz gestellt hatte. Von der Seesternstadt über die NAFU-Kommune bis nach Burma und Bhutan waren alle Stationen minutiös dokumentiert. Besonders gespannt war man natürlich auf die Luftaufnahmen aus dem
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