Das Südsee-Virus
befindet?«
»Professor Pound hat es mir erklärt, ja …«
Als sie den Namen des Chefarztes hörte, wich sie zur Seite und widmete sich einem anderen Patienten.
Der Speisesaal befand sich im Parterre, sie brauchten sich nur dem Zug der schlurfenden Insassen anzuschließen. Vor der Treppe, die neben dem Fahrstuhl nach unten führte, hielt Cording an.
»Lauf runter in die Garage, lass dir von Steve die Klamotten geben und komm so schnell wie möglich zurück«, raunte er Maeva zu. »Ich warte hier auf dich!«
Sie war schneller zurück als erwartet. Gemeinsam schoben sie Shark auf die Toilette und parkten ihn in der geräumigen Zelle für Rollstuhlfahrer. Dann wuchteten sie den Jungen aus dem Stuhl. Er stand stabil auf den Beinen. Er hob sogar die Arme, als Cording ihm das Anstaltshemd über den Kopf zog. Schließlich war die Verwandlung vollbracht. Shark sah gut aus unter seinem Lederkäppi, die Sonnenbrille stand ihm auch, nur der Mantel war etwas zu lang, er reichte ihm fast bis zu den Knöcheln.
Maeva musste schmunzeln. Und Shark schmunzelte zurück. Er hielt sich erstaunlich aufrecht in ihrer Mitte, sie brauchten ihn nur leicht an den Ellenbogen zu stützen. Auf der Treppe zur Tiefgarage begegnete ihnen niemand mehr. Steve wartete bei laufendem Motor. Sekunden später raste er die Auffahrt hinauf. Als der Mercedesstern an der Spitze der Motorhaube vom Himmel sackte, um die Straße ins Visier zu nehmen, stieß Maeva einen Freudenschrei aus. In anderthalb Stunden ging ihr Flieger nach Hamburg.
Cording betrachtete die Bücher in Mike Kühlings Bibliothek. Sie sahen abgestaubt aus, aber nicht benutzt. Das Lesezeichen im »Mann ohne Eigenschaften« befand sich noch immer auf Seite 187, dort wo er es vor sechs Jahren stecken gelassen hatte, weil ihm eine Formulierung aufgefallen war, die ihm gut gefiel: »Man soll von Zeit zu Zeit den Geist in seinem eigenen Hause aufsuchen.« Von diesem Raum aus hatte Mike ihn in seiner Eigenschaft als Chefredakteur von EMERGENCY in die Südsee entsandt – ohne natürlich zu ahnen, was daraus werden würde. Umso erstaunlicher, dass sein alter Kumpel, der das erfolgreiche Reportagemagazin noch immer leitete, sie nun bei sich aufgenommen hatte.
Cording setzte den antiken Globus in Bewegung, für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als bewege er eine bhutanische Gebetsmühle. Mike Kühling, der just in diesem Moment die Bibliothek betrat, schien das ähnlich zu empfinden. »Die Welt kann unsere Fürbitte gut gebrauchen«, sagte er, »ich drehe jeden Tag an dem Ding.«
Cording beobachtete die beiden südamerikanischen Haushälterinnen, die in dem beheizten Wintergarten den Frühstückstisch deckten. Die Elbe rekelte sich ausufernd in der herbstlichen Morgensonne.
»So breit hab ich sie gar nicht in Erinnerung«, bemerkte Cording.
Kühling setzte sich an seinen Schreibtisch und legte die Füße hoch. Alles in diesem Raum war schwer und düster, die getäfelten Wände, die Sessel, der Teppich, sogar die Aschenbecher. Bürobarock für Männer mit Verantwortung. »Fällt dir nichts auf?«, fragte Kühling.
Cording überlegte. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Elbinseln Neßsand, Hahnöfersand und Schweinesand waren von dem Fluss vollständig verschluckt worden.
»Schau mal nach links«, hörte er Mike sagen.
Wo war das Werksgelände von Airbus Industrie geblieben?! Abgesoffen, mitsamt der Startbahn! Ganz Finkenwerder war untergetaucht!
»Es ist noch Ebbe, mein Lieber«, sagte Kühling, »in wenigen Stunden haben wir einen Ozean vor der Tür, dann sind nicht einmal die Rudimente von Cranz, Neuenfelde oder Francop zu sehen, dann reicht die Elbe bis zu den Harburger Bergen. Sag mal, du scheinst dich die letzten Jahre nicht sonderlich für deine alte Heimat interessiert zu haben …«
Cording schluckte. Es war also eingetreten, wovor Wissenschaftler und Deichbauer seit Jahrzehnten gewarnt hatten: Die Norddeutsche Tiefebene war dem steigenden Meeresspiegel nicht mehr gewachsen … »Was ist mit der Innenstadt?«, fragte er benommen.
Wenn die Fluten, wie zu vermuten war, mit Vehemenz in die Fleete drangen, dürfte der Rathausturm allenfalls noch als Mahnmal zu besichtigen sein. Und mit ihm das ganze herrliche Ensemble rund um die Binnenalster, das einem überzeugten Hanseaten wie ihm jedes Mal das Herz höher schlagen ließ, sobald er von einer längeren Reise zurückkehrte. Wie sehr hatte er sich darauf gefreut, mit Maeva zwischen den Kandelabern der
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