Das Südsee-Virus
bogen linker Hand ab in Richtung des universitätseigenen Footballfelds, das jetzt als Start- und Landeplatz für Helikopter herhalten musste.
»Über wie viel Personal verfügen die Hilfsorganisationen?«, fragte Cording.
»Zurzeit sind in Chongqing etwa zehntausend Helfer stationiert. Das ist natürlich viel zu wenig. Aber glauben Sie mir«, fügte Westerstede auf Deutsch hinzu, »diese Leute reißen sich den Arsch auf. Tag und Nacht.«
Sie passierten die beiden mit Inschriften verzierten Säulen, die das Tor zum Campus bildeten. Westerstede deutete auf die beiden kürbisgroßen roten Lampions, die zwischen ihnen an einem Stahlgestänge im Wind schaukelten. »Wenn Sie wollen, können Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, übersetzen«, sagte er, »das entscheiden Sie. Ich kenne die Befindlichkeiten Maevas nicht. An diesem Stahlgestänge baumelten letzte Woche noch vier abgeschlagene Köpfe. Es waren die Köpfe von vier hohen Herrschaften aus der Chefetage der Firma China Yangtze Power, die den Staudamm zu verantworten hat. Die Männer waren von einer aufgebrachten Menge aus ihren Villen geholt und gelyncht worden. Es dauerte eine Woche, bis man uns endlich erlaubte, ihre stinkenden Schädel abzuhängen. Warum erzähle ich Ihnen das? Vermutlich liegt mir daran, Sie wissen zu lassen, auf welch ungewöhnlichem Terrain sich jemand bewegt, der sich in Hubei einen Überblick verschaffen möchte. Ich vermute mal, dass Maeva sich nicht davon abbringen lassen wird, mit uns zu fliegen. Aber ich kann nur dringend davon abraten. Was sie dort draußen zu sehen bekommt, verkraftet ein normaler Mensch nicht so einfach.«
»Sie ist kein normaler Mensch.«
Westerstede nickte und atmete kräftig durch. In diesem Moment war er Cording plötzlich unglaublich sympathisch.
»Was tuschelt ihr beiden denn die ganze Zeit?«, fragte Maeva.
»Dr. Westerstede hat mich gefragt, ob er für uns zwei Einzel- oder ein Doppelzimmer reservieren soll«, flüsterte Cording ihr ins Ohr. Zu seiner Überraschung schmiegte sich Maeva fest in seine Arme, sie ahnte wohl, was in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde.
Am nächsten Morgen brachen Maeva und Steve mit Dr. Westerstede auf, um die »verbotene Stadt« zu besuchen, wie das nördliche Chongqing von den Hilfsorganisationen genannt wurde. Gemeint war die Ebene vom Zhaomumassiv bis hinunter zum Jialingstrom. Auf einer Fläche anderthalbmal so groß wie Hamburg waren die Seuchenopfer konzentriert, die aus der Todeszone gerettet worden waren oder es aus eigener Kraft bis nach Chongqing geschafft hatten. Cording konnte von seinem Fenster aus einige der riesigen Zeltlager sehen, sie reichten ja direkt bis an das gegenüberliegende Ufer. Rund sechshunderttausend Menschen waren in der »verbotenen Stadt« interniert, ihre genaue Zahl stand nicht fest, das Rote Kreuz hatte es längst aufgegeben, über die Ein- und Abgänge Buch zu führen. Cholera, Pocken, Typhus, Fleckfieber, Tuberkulose und eine Reihe bisher unbekannter Krankheiten schlugen erbarmungslos zu. Eine medizinische Versorgung fand so gut wie nicht statt, jedenfalls nicht bei Erwachsenen, dazu reichten die Arzneimittel, die nach Chongqing eingeflogen wurden, einfach nicht aus. Zwei ausländische Transportmaschinen pro Tag, mehr genehmigte Peking nicht.
Im Grunde handelte es sich dort drüben um einen riesigen Friedhof, dachte Cording, nur dass die Kadaver auf ihm noch müde mit den Augen klimperten. Er war nicht besonders stolz darauf, dass er sich dem Besuch verweigert hatte. Maeva hätte seinen Beistand sicher gut gebrauchen können. Zumal sie gegen den Rat Westerstedes darauf bestanden hatte, eines der »Kindercamps« zu besuchen, die rund um die beschaulichen Seen unterhalb des Zhaomumassivs errichtet worden waren. Zum Glück hatte sie sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen. Das mochte mit seiner Zusage zusammenhängen, sie morgen auf dem Flug in die Todeszone zu begleiten. Steve hingegen brachte Cording keinerlei Verständnis entgegen, er konnte es sich nicht einmal verkneifen, ihm beim Abschied noch einen bitterbösen Blick durch das Sichtfenster seines gelben Schutzanzuges zuzuwerfen, ohne den hier niemand das andere Ufer betrat.
Cording studierte die Unterlagen, die ihm Westerstede freundlicherweise aus seinem privaten Fundus überlassen hatte. Der Mann hatte bereits seit Jahren vor den Folgen eines möglichen Dammbruchs am Jangtse gewarnt. Sicher, er war nicht der einzige Mahner, der in zahlreichen Publikationen und
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